Wenn
Marx, Engels und Lenin etwas geschafft haben, außer Ideen zu geben
an die „Arbeiterbewegung“ – in Wahrheit eine Bewegung abhängig
Beschäftigter, heute im Wesentlichen eine Interessenvertretung der
An-Gestellten –, dann ist es dies: Sie haben die Deutungshoheit
über den Begriff des „Sozialen“ mit bestimmten Parteien
verknüpft, die ein Zufall der Geschichte auf der linken Seite des
Parlaments zu sitzen kommen ließ. „Links“ erscheinen seither die
Vorreiter und Hüter des „Sozialstaates“; er korrigiert die
„natur-wüchsigen“ Ungerechtigkeiten. Aber der fürsorgliche
Staat ist nicht zuletzt eine Erfindung Bismarcks. Er ist zutiefst
konservativ und patriarchalisch und verharrt in den alten Schemata
von Obrigkeit und Untertanen mit begrenzter Mündigkeit; er belohnt
die Systemkonformität, er belohnt das Mittelmaß. In den Köpfen
aber hat sich die Dichotomie zwischen „Links“ und „Rechts“
festgesetzt. Über einen Wandel der Bedeutungen von „sozial“,
„fortschrittlich“ oder „konservativ“ wird nicht nachgedacht.
Mit Klischees lebt es sich nun einmal leichter.
Bei
genauerem Hinsehen wird klar, dass der „Klassenkampf“ zwischen
„Sozialismus“ und „Kapitalismus“, der im Kalten Krieg seinen
Gipfel zu erreichen schien, eine Fiktion ist, denn beide Seiten sind
innerhalb des Gestells untrennbar aneinander gebunden, sie haben sich
in ihm entwickelt, sie erhalten es – jeweils dem eigenen Überleben
zuliebe – aufrecht und können ohne einander nicht leben. Der
letzte Beweis ist das vollkommene Scheitern des „sozialistischen
Weltsystems“, wo der Versuch, das freie Unternehmertum auszurotten
und die Wirtschaft ausschließlich von den An-Gestellten aus Staat
und Partei führen zu lassen, als Katastrophe endete. Nun holen
Russen und Chinesen „ihren“ Kapitalismus zurück – die
Ausbeutungsexzesse des 19. Jahrhunderts eingeschlossen – mit dem
gleichen Personal, das vorher als Staats- und Parteibürokratie die
Länder ruinierte. Aber immer noch spukt die Idee, dass wer für
An-Gestellte eintritt, auf Seiten der sozialen Gerechtigkeit kämpft,
in den Köpfen. In dieser Falle sitzen längst auch die Vertreter der
„christlich-sozialen“ Richtungen: Sie folgen der Deutungshoheit
der An-Gestellten-Parteien meist schon deshalb, weil sie selbst
An-Gestellte sind. Die Mitleids- und Fürsorgerituale halten ihnen
das schlechte Gewissen vom Leib. Sie lassen sich dafür gut bezahlen,
und die hermetischen Sicherungssysteme für ihre Versorgung nehmen
ihnen die Angst, selbst ins Unglück zu geraten. Ängstlich sind sie
dabei andauernd: für irgendetwas in die Verantwortung genommen zu werden. Sie übersehen in all ihrer ängstlichen Fürsorglichkeit nur
einen systematischen Fehler ihrer Strategie: Fürsorge schafft
Bedürftigkeit und umgekehrt. Es ist das Wesen dieser wie jeder
Interaktion. Gegen den Mindeststandard „freistehendes
Einfamilienhaus und Wunschauto für alle“ gäbe es nichts
einzuwenden, außer einem: Er wäre sozial ungerecht.
Es
gibt Menschen, die hören sofort auf, irgendeine Art sozialer
Verantwortung wahrzunehmen, wenn nur für Essen, Trinken ein Dach
überm Kopf und ein bisschen Spaß gesorgt ist. Sie nehmen gern, was
ihnen für den Lebensunterhalt zugeteilt wird – einschließlich
kompletter medizinischer Versorgung – und schlafen sehr gut, wenn
sie nicht versteuern müssen, was sie zusätzlich verdienen. Sie
hören es gern, wenn ihnen Politiker und Journalisten versichern,
dass die Rolle des Schmarotzers schon an einen anderen Sündenbock
vergeben ist: den bösen Kapitalisten. Die An-Gestellten-Parteien
können die Rolle logischerweise nur an diejenigen vergeben, bei
denen die Mittel für die sozialistischen Versorgungssysteme zu holen
sind: Unternehmer, Freiberufler, kurz: diejenigen, die gar nicht oder
nicht allein von eben jenen Versorgungssystemen abhängig sein
wollen. Natürlich braucht man Unternehmer, um Arbeitsplätze zu
schaffen. Deshalb werden junge Menschen gelobt, die das Risiko einer
Gründung eingehen. Ihr Unternehmen hat kaum Laufen gelernt und erste
Gewinne gemacht, da wird es schon in bürokratische Regelsysteme
gezwängt und für Steuern und Sozialabgaben angezapft.
Nein,
ich tappe nicht in die Dichotomie-Falle, die hier lauert:
An-Gestellte oder abhängig Beschäftigte versus Selbständige,
Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer und deren Interessenvertreter,
letztlich in das Lemma „Die Geschichte ist eine Geschichte der
Klassenkämpfe“. Sozialschmarotzer, gar Soziopathen finden sich
unter Selbständigen ebenso wie in allen Schichten, Berufen,
unabhängig von Hautfarbe, Sprache, Herkunft Religion oder
Geschlecht, sie finden auch immer Formen sich zu verbünden, wenn sie
ihr Interesse durchsetzen wollen, das da heißt: „Enteignet die
anderen“. Mir geht es nur darum, wie verantwortungsloses Verhalten
systemisch begünstigt wird. Marx hatte dafür eine bis heute gern
zitierte Beschreibung:
„Das
Kapital hat ein Grauen vor Abwesenheit von Profit, wie die Natur vor
der Leere. Zehn Prozent und man kann sie haben. Zwanzig Prozent und
sie werden lebhaft. 50 Prozent positiv waghalsig. Für 100 Prozent
stampft man alle menschlichen Gesetze unter den Fuß. 300 Prozent und
es gibt kein Verbrechen, das man nicht wagt, selbst auf die Gefahr
des Galgens.“
Was
Marx hier „dem Kapital“ als Subjekt zuschreibt, Angst und Gier
bis zum beispiellosen Risiko, trieb tatsächlich immer das Handeln
menschlicher Subjekte – als Einzelne oder im Kollektiv.
Nach
200 Jahren schauen wir auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte der
Gier. In den Händen neuer Geldeliten ist mehr Besitz und Macht
akkumuliert als in denen sämtlicher Herrscherdynastien des
Milleniums – infolge des massenhaften Strebens nach dem Erwerb von
Geld und Waren. Nachdem in dieser Welt – das hatte der junge Marx
vorausgeahnt – fast alles und jeder zur Ware, also käuflich
geworden ist, darf das Geld und seine quantifizierende, alles gleich
machende Wirkung als beinahe jedem Einzelnen eingewachsenes
Strukturmuster gesehen werden. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Wir
landen bei der Wechselwirkung individueller Verhaltensmuster mit
sozialen Randbedingungen: im Aufgabenfeld der Politik. Es ist DAS
Konfliktfeld. Die Aussicht, dass Politik und Staat sich einmal
erübrigen könnten, war nie zuvor utopischer. Wundert sich
irgendwer, dass die Verteidiger der „reinen“ Marktwirtschaft“
ebenso katastrophale Schäden anrichten wie die der „reinen
Staatswirtschaft“ marxistisch-leninistisch-maoistischer Provenienz?
Wenn man will, erkennt man hier, wie sich in gesellschaftlichen
Verhaltensmustern – im Sinne fraktaler Selbstähnlichkeiten –
individuelle ausprägen. Gegensätze sind im Leben freilich nie so
„rein“ wie es „reine“ Verhaltensschemata geben kann, aber
erkennbar sind immerhin gegensätzliche Strategien: die des Erlangens
unter Inkaufnahme größter Risiken und die des Vermeidens unter
Inkaufnahme der Bewegungslosigkeit.
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