Freitag, 30. Dezember 2011

Ein Christbaum–Leben

Tatsächlich musste eine Chinesin kommen, eine Frau also, die zum Christentum im Allgemeinen und Weihnachten im Besonderen überhaupt kein Verhältnis hat, um dieses Fest, seine religiösen Wurzeln, seine Rituale völlig neu zu erleben.

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Weihnacht 2011

Es mag auch mit dem Altern zusammenhängen, mit intensiverem Erinnern an kindliche Weihnachten, dass einer wieder echte Kerzen im Grün und Gold brennen sehen will – in all meinen Jahren als Single hatte es mir wenig bedeutet. Nun, im Zusammenleben mit Qin aus Nanking, gab es immer einiges zu erklären und zu erzählen, wenn wir Kirchen und Klöster besuchten, wenn der Dezember kam mit Adventlichtern, mit einem Stall samt Pony, Ziegen, Kuh und Krippe auf dem Christkindlesmarkt, einer Plastikversion desselben vor der brutalst kitschigen Touristenschänke in der Fußgängerzone, wenn der alte “Da Bi Zi”* bereit war, in Kirchenlieder einzustimmen, obwohl er der Institution Kirche schon vor Jahrzehnten Adieu gesagt hat.

Bei diesen kultur- und religionshistorischen Erzählungen kam ich zwangsläufig auf die Botschaft vom Kind, das der Menschheit Frieden, Erlösung von Schuld und Sünden verspricht, dem Tod seinen Schrecken nimmt. Die Geburt Christi geht in der Bibel mit Lichterscheinungen einher, sie geschieht mitten in der Nacht, Hirten und Weise aus dem Morgenland werden erleuchtet, kurz: das Wichtigste an diesem Geschehen ist eigentlich, dass etwas Erhellendes, Beglückendes nicht menschlicher Vernunft entspringt, sondern als Geschenk Gottes unter wahrlich himmelschreienden biologischen und physikalischen Ungereimtheiten in die Welt kommt.

Im Kern der Botschaft gibt es indessen einen Zusammenhang zwischen Licht, Leben und Liebe – es gibt Ähnliches in fernöstlichem Glauben.

Nachdem ich in diesem Jahr wieder für Qin einen Kinderzeit-Weihnachtsbaum mit Kerzen statt elektrischer Beleuchtung geschmückt habe, nachdem wir den Zauber der lebendigen Flammen, des Dufts, des Abbrennens und Verlöschens gemeinsam bestaunt haben, hätten wir dem etwas altbacken wirkenden Lied vom Tannenbaum noch ein paar Strophen hinzuzufügen: Darin wäre vom Geschenk zu reden, auf brennende Kerzen achten zu dürfen. So ein Christbaum alter Fassung ist ein Sicherheitsrisiko, er verlangt uns – von der richtigen Platzierung der Glaskugeln, Glöckchen, Ketten zwischen den Zweigen, auf dass sie nicht den Flammen zu nahe kommen, über die Pflicht, alles beim Abbrennen immer im Auge zu behalten, bis zum Reinigen, Pflegen, neu Bestücken der Kerzenhalter – ein Mehr an Mühe und Aufmerksamkeit ab. Dafür werden wir belohnt: Der Baum und sein Fest leuchten nicht nur nebenbei. Wir nehmen uns Zeit für ihn und gewinnen Zeit für uns, unersetzliche, liebevolle Zeit – die sich der Erinnerung an die Christbäume der Kindheit verbindet.

Es sind Bäume fürs Leben.

Weihnacht 1953

Weihnacht 1953

*)chinesisch: “Großnase”

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Führung: Wechselspiel statt Weisung

 

„Gedankenfreiheit“ – ist das ein dem Menschen zu gestattendes oder zu verweigerndes Rechtsgut, wie Schiller den Marquis Posa fordern lässt?

Ist es eine individuelle, durch Bildung zu befördernde Fähigkeit, wie sie der große „Lexikon-Meyer“ erstrebte?

Geht es nur um die Möglichkeit, seine Gedanken frei äußern zu dürfen?

Womöglich geht es um etwas ganz anderes: darum, das Irren, den Fehler aus der Versagens- und Schamecke zu holen, eigen- und querständiges Denken ohne Rücksicht auf vermeintlich noch so gesicherte Wahrheit schon in der Schule zur Kulturtechnik zu entwickeln.

Womöglich könnte es sich als äußerst fruchtbar erweisen, Konkurrenz und Kooperation nicht als Gegensatz zu sehen, sondern als Erfolgsrezept innerhalb eines Zusammenspiels. In jedem Mannschaftssport kann man erleben, dass der Einzelne durchaus in Konkurrenz zu anderen sein Bestes gibt, dass er aber zugleich auch die Fähigkeit entwickeln muss, die Schwächen anderer zu kompensieren, er muss für die anderen da sein, ihnen zuarbeiten: das trainiert ganz besondere Qualitäten des Einzelnen.

Er muss andererseits allein entscheiden und frei heraus sagen können, wenn er unzufrieden ist – nicht nur zum “passenden Zeitpunkt”: das trainiert ganz besondere Qualitäten der Mannschaft.

Wir leben in einer Zeit, wo die Qualität solcher Organisations- und Kommunikationsprozesse über unsere Zukunft entscheidet. Unter vielen Publikationen zum Thema empfehle ich “Feel it! – So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen” von Andreas Zeuch und “Affenmärchen” von Gebhard Borck.

Die Krisen der Finanz-, Wirtschafts- und Bildungseinrichtungen, die Handlungsunfähigkeit der Politik verlangen nach neuem Denken, nach Transparenz, nach verantwortungsbewusstem Handeln des Einzelnen anstelle weisungsgebundener Verantwortungslosigkeit in undurchsichtigen Apparaten.  Die Konflikte unserer Welt sind nicht lösbar, so lange nur die Geldmaschinen am Laufen gehalten werden. Und die Lösungen liegen nicht auf der Straße.

Sonntag, 16. Oktober 2011

Elias Canetti und die Magie der 99%

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Warum sollte ausgerechnet DAS nicht fortwirken: Menschen fühlen sich durch anhaltendes Fähnchenschwenken und das Tragen von Parteiabzeichen überlegen, stark, anderen gegenüber im Recht, nachgerade ermächtigt, Forderungen zu erheben und sie – nötigenfalls mit Gewalt – durchzusetzen?

Es wirken ja alle anderen Formen menschlichen Verhaltens auch fort: die Neigung zu patriarchalischer Vorherrschaft, die Polygamie, feudaler Pomp, alle irgend denk- und vorstellbaren Formen der Grausamkeit, Aberglaube, Balzrituale, religiöse Verfolgungen … Gott sei Dank auch Hilfsbereitschaft, Fairness, Kooperation.

Ein wunderbar erhellendes, vollkommen subjektives, dennoch mit wissenschaftlicher Akribie verfasstes Buch über solche Fragen hat Elias Canetti geschrieben: “Masse und Macht”, es erschien 1960.

Der Einzelne sehnt sich danach, in der Masse (der Herde, der Horde, der Meute, dem Mob …) geborgen zu sein, die eigene Schwäche durch vermittelte, gebündelte Schubkräfte der Gemeinsamkeit zu überwinden. Diese Sehnsucht hat eine lange evolutionsgeschichtliche Berechtigung. Allerdings konkurriert sie mit einem mir (noch stehe ich damit nicht gänzlich allein) persönlich sehr wichtigen Impuls: Dem individueller Freiheit und Verantwortlichkeit fürs eigene Handeln. Die Konkurrenz der Impulse löste lebenslanges Nachdenken und fortwährende Prüfungen meines Sozialverhaltens aus; ich darf sagen, dass sie nicht ganz unfruchtbar waren.

“Canetti, der Ideologien verabscheut, teilt seine Weltanschauung nicht offen mit. Erkenntnis muss der mündige Leser selbst gewinnen” vermerkt der Artikel in der Wikipedia, und diese Haltung gefällt mir. Wir brauchen mündige Leser und am subjektiven Erleben geschulte Welteinfühlung statt ideologisch ausgerichteter Weltanschauung. Wir brauchen selbstbestimmtes Handeln in Konflikten ohne den Schutz von Fahnen und Parteiabzeichen. “Mehr Demokratie wagen” müsste jeder genau da, wo er verantwortlich ist für sein Leben und das seiner Nachbarn, seiner Familie, seiner Kollegen. Leute, die für Menschenrechte in fernen Weltgegenden hierzulande gefahrlos Plakate hochhalten, im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz aber den Mitmenschen als Störfaktor oder Stimmvieh behandeln, sind einfach unglaubwürdig. Wer als “Linker”, “Liberaler”, “Christdemokrat” oder neuerdings “Pirat” die Medien beflaggt, die Menschheit nach Flagge in passende Schubladen sortiert, auf handliche Feindbilder zurechtstutzt, zum Abschuss freigibt, meint alles mögliche, wenn er von Demokratie redet, aber bestimmt nicht die Freiheit und Pluralität von Meinungen.

Demokratie verlangt dem Einzelnen sehr viel ab – womöglich sogar den Verzicht aufs wohlige Gefühl, in der Masse geborgen zu sein. Wenn die Fähnchen und Abzeichen Konjunktur haben, schrillen bei mir jedenfalls die Alarmglocken.

Dienstag, 20. September 2011

Die Pforte der Erkenntnis (I)

Anton Fürbringer ist Physiker mit Leidenschaft. Unterm “Raketenschirm” wie schon auf “Babels Berg” überdenkt er philosophische Konsequenzen seiner Arbeit. Er gerät dadurch in Konflikte - nicht nur mit der etablierten Wissenschaft. Die Abbildung zeigt, wie man sich die “Akkretionsscheibe” eines “Schwarzen Lochs” vorstellt.

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Seit Heisenbergs Tod hatte Anton die Hoffnung, es könne ihm jemand mit angemessener naturwissenschaftlicher Qualifikation auch nur zuhören, fast aufgegeben. Die Kollegen in der Akademie taten es nicht; ihre Spezialisierungen lagen seinen mathematischen Modellen fern, sie hätten gehörige Mühe gehabt, sich mit allem vertraut zu machen, was er berechnete. Selbst sein Gönner ließ sich nur angelegentlich und auf die erkennbare Richtung ein, in die sich Antons Überlegungen bewegten.

Antons philosophische Exkurse wehrte er strikt ab: „Folgte ich Ihren Gedanken“, meinte er, „ließe sich so etwas wie eine Universalkonstante fürs ganze physikalische Geschehen vorstellen, damit wäre zugleich die Physik als Wissenschaft am Ende, wir dürften nur noch die Konsequenzen dieses Sachverhalts auf unsere alltäglichen Anwendungen herunterrechnen, was menschliche Handlungsräume auf schwer vorstellbare Art eingrenzen würde. Nehmen Sie's mir nicht krumm, aber diese Botschaft ist nicht nur politisch unverkäuflich, sie nimmt mir persönlich die Lust an der Arbeit. Bleiben sie mir damit vom Hals.“

Anton wäre nicht eingefallen, die Grundfesten des Marxismus-Leninismus zu erschüttern, er stieß nur an eine Grenze des Denkens, die ihm als das Natürlichste von der Welt erschien: dass Objektivität Fiktion war, dass ein von menschlichem Handeln unabhängiger Blick – von einem Standpunkt im letztlich menschenleeren Universum aus, einer Gott ähnlichen Position also – nur sehr begrenzte Einsichten zeugte, dass „Objektivität“ für die Physik der Elementarteilchen gar nicht, für die Astrophysik eingeschränkt zu brauchen war. Niemand konnte schließlich mit einem menschenleeren Universum irgendeine Erfahrung machen. Es existierte nur als Spekulation, als Konstrukt des Denkens, in menschlichen Köpfen – dort möglicherweise aufgrund einer allüberall wirkenden universellen Mathematik, die aber letztlich wieder nur im und durch den Menschen vollständig war. Das Universum, in dem die Physiker, Astronomen, Chemiker Biologen mit ihren Instrumenten sich tummelten, für das Mathematiker kühnste Modell entwarfen, sie von gigantischen Rechenmaschinen als Simulationen ausspucken ließen, war ohne Gedanken, Gehirne, die zugehörigen Körper samt den ihnen vorausgegangenen Vorfahren, deren Vorgeschichte bis zu den ersten organischen Molekülen nicht zu verstehen. Diese „Vorgeschichte“ war ihrerseits aber jedenfalls nichts als Konstrukt menschlichen Denkens, denn eine direkte Interaktion mit Vergangenheit war nach aller Erfahrung ausgeschlossen. Zu keiner Zeit ließ sich ein Eindringling von jenseits des Ereignishorizonts, also von jenseits der mit Lichtgeschwindigkeit Zukunft von Vergangenheit scheidenden Barriere auffinden – Invasoren aus dem Übermorgen oder Vorgestern gab es nur in blöden Science-Fiction-Stories.

Das Vergangene lebte – untrennbar von der Gegenwart – bis in alle Zukunft fort, aber nur und ausschließlich als fortwährende Verwandlung, und deren Urgrößen waren komplementär: Trägheit und Flüchtigkeit. Oder noch elementarer: Nichts und Etwas. Dieses Urpaar aus Null und Eins gebar die Zeit – und war von da an unauffindbar, weil es zugleich die Grenze des Universums markierte, die es mit allem, was in irgendeiner Form an Zeit gebunden war, unumkehrbar dem Ursprung entrückte. Die Grenze war und blieb die Lichtgeschwindigkeit. Keine Messung würde zum Ausgangspunkt gelangen, kein Denken ihn fassen, weil Denken ebenso an die Physis und ihre Zeit gebunden war wie jede andere Bewegung.

Montag, 5. September 2011

Die Lust am Quälen und die Widerstandskraft der Banane gegen die Frage “Warum”

Dies ist eine Leseprobe zur Neufassung von “Der menschliche Kosmos” – Kapitel 1. Das Vorwort ist bereits online
Beginnen wir die Entdeckungsreise in Nachbars Garten an der „Köttelbecke“, also einem der offenen Abwasserkanäle des Emschersystems im Ruhrgebiet. Die kleinen Gärten hinterm Reihenhaus sind in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so typisch wie die im Sommer oft übel riechenden Betonrinnen für Abwässer quer durch die Siedlung; sie können wegen der vom Bergbau verursachten Erdbewegungen nicht unterirdisch verlegt werden. Unsere Nachbarn, ein Ehepaar von etwa sechzig Jahren, sind trotzdem fast immer in ihrem Gärtchen. Sie haben sich sogar einen kleinen runden Pavillon mit grünen Fensterscheiben gebaut, obwohl es vom Liegestuhl nur ein paar Schritte ins Haus sind. Wir wunderten uns anfangs, wieso jemand sich in einem Gartenhaus grüne Gardinen vor die Fenster hängt, bis wir bemerkten, dass es weiße Stores hinter grünen Scheiben waren, die uns befremdeten. Ebenso befremdlich erschien uns, dass im Pavillon, den aufzubauen einiges Geld und gute zwei Wochenenden handwerklicher Arbeit gekostet hatte, offensichtlich nur Gartenmöbel untergestellt wurden. Auch dieses Rätsel löste sich: der Pavillon beherbergt etwas viel Kostbareres. Dort steht – in Reichweite, nicht etwa in der einige Gehminuten entfernten Küche – der Kühlschrank, und im Kühlschrank ist das Bier.
Es ist für unsere Nachbarn so wichtig, das Bier in der Nähe zu haben, weil sie sich fast immer streiten. Sie reden ausdauernd aufeinander ein und die wellenförmig aufbrandenden Gespräche gipfeln in beleidigenden Worten. Ein solcher Zyklus der Aufregung läuft aber nicht synchron mit dem Leeren einer Bierflasche ab. Wir haben noch nicht herausgefunden, wer von beiden mehr und schneller trinkt, aber einerlei: es käme anscheinend einem Koitus Interruptus gleich, wenn eine besonders heftige Attacke wegen einer leeren Flasche, eines dann also erforderlichen Ganges in die Küche unterbrochen werden müsste. Tatsächlich ist der Kühlschrank im Pavillon mit den grünen Fensterscheiben Teil eines ebenso detailliert wie unbewusst inszenierten und mit nicht nachlassender Energie aufgeführten Dramas.
Die beiden quälen einander mit Hingabe, sie genießen Bier und Beschimpfungen gleichermaßen (die Texte variieren nur wenig), sie haben an Schwung und Emotionalität nie eingebüßt. Es ist sinnlos, Gründe für das Gezänk finden zu wollen. Nicht einmal Anlässe lassen sich erkennen – außer dass die Sonne scheint und Bier im Kühlschrank ist.
Wenn wir den zu uns über den Zaun herüber wehenden Sprachfetzen vertrauen können, währt ihre Beziehung trotz dauernder Konflikte an der Grenze zur Gewalttätigkeit schon 40 Jahre. Wir beginnen zu verstehen, dass Mann und Frau nicht um Gründe von Ärgernissen streiten, die auszuräumen wären. Sie streiten schon gar nicht um Veränderungen ihrer Umgangsformen miteinander. Bei all der wiederkehrenden Aufregung, all dem Reden und Gestikulieren, während sie sich gegenseitig aufreizen und ankeifen, geht es im Gegenteil darum, dass sich NICHTS verändern soll, sondern dass jeder immer wieder aufs Neue seine Rolle, seine Wahrnehmung von sich selbst gegen den anderen verteidigt. Es handelt sich um eine Dynamik, deren Ziel das Gleichgewicht ist. Und genau deshalb, wegen dieser zum Ritual gewordenen Dynamik, unterscheiden sich die Konflikte unserer Nachbarn nicht von den Konflikten zwischen Parteien, Völkerstämmen, Nationen, religiösen Gemeinschaften. Dort allerdings kann ein Gewaltausbruch Schlimmeres bewirken als ein blaues Auge und ein paar zerschlagene Bierflaschen.

Montag, 1. August 2011

Die Entdeckung und Verstellung des Körpers

Wie durch „Objektivität“ dem Leib die Seele und dem Diskurs der Sinn ausgetrieben wird. Das Elend der Schulen. (Kapitel 3)
“Wenn irgendein Konflikt mit Hilfe der Sprache gelöst werden soll, muss er in voller Schärfe und mit allen Sinnen wahrgenommen und nicht zuvor auf die Terminologie politischer Correctness hingebogen oder hinter den Lügen sozialpädagogischen Wunschdenkens versteckt werden.”
So steht’s im dritten Kapitel von “Der menschliche Kosmos". Und – in aller Bescheidenheit – dort finden sich auch einige wichtige Hinweise auf die Entstehung beispielloser Gewalttaten wie denen von Anders B. Breivik, von Robert Steinhäuser in Erfurt 2002, von Emsdetten und Winnenden. Die unbequemen Fragen des Buches passen natürlich nicht in eine Medienlandschaft, die das Ziehen von Schubladen als erfolgreiches Sozialritual etabliert hat.
Eichmann im Prozess 1961 in Jerusalem
"Eine Psychopathologie Adolf Eichmanns hat es deshalb nie gegeben, weil sein Verhalten lebenslang den Normativen eines brauchbaren, wenig auffälligen AnGestellten entsprach. Seine Selbstwahrnehmung war entsprechend. Das liegt nun nicht etwa daran, dass Eichmann psychisch nicht gestört gewesen wäre, sondern daran, dass seine psychische Deformation massenhaft verbreitet, ja sogar als besondere Eignung für spezielle politische Ziele willkommen ist. 
Ein Apparatschik der mörderischen Art braucht keine „teuflisch-dämonische Tiefe“ - das hat Hannah Arendt schon im Eichmann-Prozess beobachtet. Es genügen Karrieregeilheit und ein empathiefreier Dominanzimpuls. Solche Figuren reussieren besonders in totalitären Systemen: Dserschinski, Beria, Heydrich, Mielke sind nur die bekanntesten von ihnen. Es gibt sie aber in jedem Herrschaftsapparat, auch in demokratischen Staaten. Wenn Parteien sich ihrer Dienste auf dem Weg zur Macht bedienen können, tun sie es. Solange demokratische Öffentlichkeit und Rechtsstaat funktionieren, sind sie aufzuhalten. Sie werden folglich alles daran setzen, Meinungsfreiheit und unabhängige Justiz zu torpedieren. Solche Typen mit einem herzlichen Verhältnis zu Frau und Kindern und – nach eigenem Bekunden – keinerlei persönlichen Aversionen gegen Juden, Russen, Deutsche, Katholiken, Protestanten, Andersfarbige, Schwule, Rechte, Linke oder überhaupt irgendwie „Andere“ drücken aber nötigenfalls – mit dem reinsten Gewissen der Welt – auf den Knopf mit der Hunderttausend-Tote-Technik. Warum? Weil sie es können. Das gilt als gesund.”
Das hätte Anders Breivik auch getan, nur hatte er nicht die Rückendeckung eines Regimes. Er hat sich sein eigenes erfunden. Er erfand sich selbst die Partei, die ihn anderenorts als Helden gefeiert hätte. Die Welt ist voll solcher Orte. Jeder Panzerfahrer in Syrien oder Libyen massakriert bedenkenlos Frauen und Kinder, wenn das Feindbild stimmt, um nach dem Einsatz wieder sein Kindchen auf dem Schoß zu schaukeln und seiner Frau zu sagen wie schön sie ist. Ab und zu brechen solche menschengemachten Konstrukte von Recht und Gerechtigkeit zusammen. Die verpimpelten AnGestellten, deren Waffen zu unverdächtigen bürokratischen Prozeduren geschrumpft sind, schlagen dann die Hände überm Kopf zusammen und suchen Rat bei Leuten, die ihnen erklären, dass Massenmörder Psychopathen sind. Sind sie aber nicht.
Schön bequem ist auch die Erklärung von der “narzisstischen Persönlichkeitsstörung”. Sie suggeriert, dass man Massenmörder nur rechtzeitig in eine Menschenreparaturwerkstatt schaffen müsste, um Massaker zu verhindern. Schön. Mozart wäre als Komponist auf diese Art ebenso verhinderbar gewesen wie ETA Hoffmann als Autor, und – auch nur als Beispiel – Konstantin Wecker als Held der Antifa.
“Die auf möglichst massenhaften (Quote!) voyeuristischen Konsum von Gewalt ein-Gestell-ten Medien schreiben die Zyklen von Gewalt- Macht- Lust massenhaft als emotionale Erfolgsgeschichte fort. Die ideologische Trennung von „guter“ und „böser“ Gewalt ver-stellt ihre Wahrnehmung als Geschichte zerstörter Möglichkeiten.”
Das Problem menschlicher Wahrnehmung ist, dass sie nicht wissen will, was quer zu ihren weitgehend und vor allem kurzfristigen und kurzsichtigen Erlangungs- und Vermeidungsstrategien steht. Das finden Sie unzutreffend? Ich freue mich auf Ihre Kommentare – aber lesen sollten Sie vorher schon.







Montag, 25. Juli 2011

Streiten um die Zukunft: Mit Denkern

Es hat sie einmal gegeben: Fernsehsendungen, die nicht an der Tagesaktualität klebten, die nicht “auf der Aufmerksamkeitswelle surften”, sondern weit ausgreifend Inhalte unterschiedlichster Bereiche von Kunst und Wissenschaft für das Publikum aufbereiteten: zu Hauptsendezeiten.

Es hat einmal Sendungen gegeben, in denen nicht farblose Moderatoren und immer dieselben Talkshownasen wiederkäuten, was auf allen Kanälen zu hören ist. Es waren Sendungen, die vom Erfahrungshintergrund und der Persönlichkeit ihrer Autoren lebten. Sie argumentierten wirklich sachkundig, kontrovers zur Politik, zum Mainstream, sie hatten es nicht nötig ewiggleichen Sozialritualen, einer Dramaturgie konfrontativen Schubladendenkens zu folgen. Das ist lange her. Und es ist schön, dass der Wissenschaftsjournalist Wolfram Huncke mit einem Buch an Heinz Haber und Robert Jungk erinnert. Einige ihrer Streitgespräche über Zukunftsfragen aus den 80er Jahren hat er angeregt, mitgeschnitten, veröffentlicht. Sie werden dem Titel des Buches gerecht.

Haber, Physiker, Astronom, “Fernsehprofessor” der 60er Jahre (“Unser Blauer Planet”) und Jungk, Philosoph und Psychologe, Emigrant, Gründer des “Instituts für Zukunftsfragen” sind beide im Mai 1913 geboren, ganze vier Tage trennen sie – doch waren ihre Biographien höchst verschieden. Ebenso verschieden sind ihre wissenschaftlichen Standpunkte, aber bei aller Kontroverse verbindet sie eine tiefe Freundschaft, beginnend mit einer Begegnung 1949 in den USA, wo der eine als Astrophysiker, der andere als Journalist tätig ist. Haber hält Vorlesungen mit dem Titel “Unser Freund, das Atom”, daraus werden Bücher und eine Fernsehserie, Jungk beschäftigen die Menschen, die Atombomben oder –reaktoren bauen, frühzeitig warnt er vor Gefahren bei der Energieerzeugung, vor den politischen Risiken nuklearer Rüstung.

Die Gespräche zwischen beiden sind lesenswert, weil sie Konfliktkultur beweisen: Freunde streiten – sehr ernsthaft, sehr engagiert, mit großer Sachkenntnis. Aus diesen Gesprächen könnten alle lernen, die heute “gegen Kernenergie” mobilmachen ohne simpelstes physikalisches Grundwissen, dass nämlich Sonnenenergie Kernenergie ist, dass unter der dünnen Haut der Erdkruste gewaltige Nuklearkräfte unseren Planeten am Leben erhalten, dass Radioaktivität ein Grundbestandteil unserer Welt ist, und dass die Frage ihrer technischen Nutzung - wie bei jeder Technologie – eine Frage nach menschlicher Verantwortung, also nach Fehler- und Konfliktkultur ist.

Das Buch schreitet viele Technikfelder ab, nicht nur das der Energieerzeugung. Frisch und lesenswert wirkt es, weil eben viele Fragen bis heute offen sind, die Gedanken der beiden Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts immer noch zur Vertiefung anregen. Es gibt am Ende eine Passage zum Thema deutsche Fernsehanstalten, in der beide ausnahmsweise einmal einig sind – auch der Rezensent muss dem nichts hinzufügen:

Haber: “… heute ist ein verwalteter bürokratischer Apparat mit verhärteten Strukturen anzutreffen. Und: Den meisten fällt nichts Neues mehr ein.”

Jungk: “Nicht nur verhärtet, die Arbeit ist auch durch die Angst geprägt, etwas anderes zu machen als das, was vorgeschrieben ist. … Die Stelleninhaber werden wahnsinnig vorsichtig, die Kreativität erlischt schließlich.”

Haber: “ Mehr noch: Die persönliche Verantwortung verrottet, weil der einzelne nicht mehr zu seinen Entscheidungen und Handlungen zu stehen braucht. Das System trägt schließlich alles. die Mitarbeiter versuchen, im System nicht aufzufallen, und dann kann ihnen persönlich nichts passieren.”

Jungk: “Nur geht auf diese Weise das ganze System irgendwann vor die Hunde. ...”

Und damit haben sie den Finger in die Wunde der organisierten Verantwortungslosigkeit gelegt. Solange ökonomische Abhängigkeiten Angestellte in Hierarchien erpressbar machen, so lange Strukturen auf ihre Austauschbarkeit zielen, so lange werden Rückversicherungsverhalten, Intransparenz,  mangelnde Konfliktkultur nicht nur Fernsehanstalten, sondern jedes Unternehmen scheitern lassen. Und genau darum sind Kernkraftwerke heute bedrohlich. Nuklearforschung und Nukleartechnik verlangen das Gegenteil von organisierter Verantwortungslosigkeit – das ist übrigens auch ziemlich genau das Gegenteil des “real existierenden Sozialismus".

Wolfram Huncke (Hrsg.)

Gestern ist heute - Heinz Haber und Robert Jungk im Disput um die Zukunft

Hirzel Stuttgart 2011, 120 Seiten, 19,90 €

Donnerstag, 16. Juni 2011

Vorwort zu “Der menschliche Kosmos” (6)

(zurück zu Abschnitt 5)

“Aufarbeitung” ist ein ebenso häufig wie fahrlässig gebrauchtes, bis zum Überdruss verschlissenes Wort. Sie folgt Katastrophen so sicher wie das Amen in der Kirche: sie ist auch meist nichts als Ritual. Jeder, der seine Haltung, Ziele, Handlungsmotive vorteilhaft darstellen will, distanziert sich rituell von den an Katastrophen “Schuldigen”. Die Deutungshoheit über die Frage “Warum” wird zur Monstranz, wird unangreifbar, die eigene Position geheiligt. So geschah es mit der “antifaschistischen Aufarbeitung” des Nationalsozialismus durch marxistisch-leninistische Staatsideologie.

Tatsächlich verirrt sich die Frage nach dem „Warum“ zwischen Ratlosigkeit, unbrauchbaren Spekulationen, Schuldzuweisungen im Nebel der Unverantwortlichkeit, wenn es um Gewaltherrschaft zum Beispiel von Nationalsozialisten oder Kommunisten, um Amokläufe in Schulen oder Familien, um Terrorakte und katastrophale Schlampereien in Kernkraftwerken oder Chemiefabriken geht. Das ist kein Zufall. „Ursachen“ sind Konstrukte menschlicher Denk- und Kommunikationsprozesse. Die Frage nach den Zielen derjenigen, die da “aufarbeiten”, muss vorab gestellt werden, die nach den Zielen der “in der Vergangenheit” Handelnden, die nach ihrer auf diese Ziele gerichteten Wahrnehmung führt zu Einsichten bezüglich einer Dynamik, die sich wiederholen kann. Wer rechtzeitig und vorbehaltlos nach den eigenen, dann nach den Zielen anderer fragt und beides in ein Verhältnis bringt, wer fragt, solange  Schlamperei, Feindseligkeit, Gewalt noch „latent“ sind, kann Konfliktverläufe beeinflussen, sogar manche Katastrophe abwenden. Auf andere wird er sich einrichten müssen. Konflikte sind letztlich so wenig vorhersehbar wie Menschen einheitlichen Handlungsmustern folgen, sich “Tugenden” und “Laster” säuberlich scheiden lassen.

Die Ketten der Kausalität, des Denkens in Abfolgen von Ursachen und Wirkungen, müssen gesprengt werden, wenn wir die Konflikte des Individuums und der Metasysteme von Familien, Nationen, Völkern und ihren Kulturen besser verstehen wollen. Quantenphysik, Relativitätstheorie und Informatik haben die Brüchigkeit dieser Ketten längst offenbart. Alle Strategien, die an diesen Ketten hängen, können die Krisen und Katastrophen der sich global organisierenden Menschheit nicht abwenden. “Wer die Ursachen beherrscht, gebietet über die Folgen” – auf dieser Einstellung fußen Strategien der mechanischen Dominanz. Wir erleben am Beispiel des weltweiten Terrorismus gerade, das auch das gewaltigste Übergewicht mechanischer Instrumentarien systemische Prozesse nicht nachhaltig steuern kann.

Der Perspektivwechsel wird sich durchsetzen, weil er keiner ideologischen Rechtfertigung bedarf. Das Zeitalter universeller Gesellschaftsentwürfe ist allerdings genau deshalb vorbei. Sie waren immer die gedanklichen Rechtfertigungen für mechanische Dominanz, ihr systematischer Fehler ist, dass sie eine „Objektivität“ von Modellvorstellungen von „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ erforderten, mit der „Zukunft“ zu prognostizieren ist – bis hin zur sogenannten „Weltformel“. Aber eine solche Formel kann und wird es niemals geben. Die Revolution unserer Zeit ist der revolutionierte Zeitbegriff: der Mensch erschafft Raum und Zeit unseres Universums mit, während er denkt, Denken ist schon Handeln, und die Dynamik dieser unauflösbaren Wechselwirkung kann nicht formelhaft „fixiert“ werden, weil eine Fixierung das Ende der Dynamik selbst bedeuten würde. Die neue Perspektive widerlegt indessen keineswegs den Sinn der Forschung, sie zeigt nur deutlicher die eigenen Grenzen; mechanische Vorstellungen versagen darin.

Davon handelt dieses Buch. Es will keine neuen Weisheiten verkünden, sondern ein Training anbieten: Leser können versuchen, öfter statt nach dem „Warum“ nach Zielen und Strategien zu fragen, sie können versuchen, ihren eigenen Alltag anders zu erleben und zu gestalten – egal ob sie es in der internationalen Politik, im Management oder in den eigenen vier Wänden tun. In diesem Sinne ist es das unvollkommenste Buch aller Zeiten, weil es ganz darauf vertraut, dass es nur Anregungen für alle diejenigen gibt, die mit neuer Sicht auf die Welt und sich selbst handelnd Erfahrungen machen und neue, wichtigere Kapitel schreiben werden. Es lebt von der Subjektivität der Wahrnehmung, und gibt die Subjektivität des Autors immer wieder preis. Es soll Lust darauf machen, einige der vielen alltäglichen „Algorithmen“, Rituale und Strategien kennenzulernen, mit denen unser Gehirn, unser Körper und die umgebende Welt - der „menschliche Kosmos“ - aufeinander wirken. Das wenigste davon ist uns bewusst, eben weil unser Bewusstsein um Größenordnungen von der Dimension des Kosmos entfernt ist. Aber Entdeckungsreisen sind möglich. Im Himmel und auf Erden.

In Kürze folgt die überarbeitete Fassung von Kapitel 1. Der 2006 im Salier Verlag Leipzig veröffentlichten Originaltext ist im Handel, beim Verlag oder direkt beim Autor zu bestellen. Große Teile sind bei der google Buchsuche verfügbar.

Montag, 13. Juni 2011

Anspruch

Ach, du wolltest Goethe gleichen
Einstein, Mozart oder Che
Wähntest, alles zu erreichen
Fliegend und auf hoher See
Fahnen schwenkend in den Straßen
Nächte wachend im Labor
Kamst du dir so wichtig vor
Während Sachen dich besaßen
Während Menschen dich vergaßen
Ach, du kannst dich selbst nicht sehen
Jeder Spiegel lügt dich an.
Deine Frau will nichts verstehen
Von dem Kindertraum im Mann.
Zeit und Leid ziehn tiefe Rinnen
Durch die Stirn, vom Kinn zur Nase

Und du ahnst: die letzte Phase
Deines Lebens will beginnen.
Du beginnst, dir nachzusinnen.

Dienstag, 31. Mai 2011

Vorwort zu “Der menschliche Kosmos” – (5)

(zurück zu Abschnitt 4)
Die Irritation beim Wechsel zur „finalen“ Ansicht ist von derselben Art, wie sie ein Rechtshänder empfindet, der wegen einer Verletzung lernen muss, mit der linken Hand zu schreiben. Ebenso gut können wir trainieren, bei der Einschätzung unserer Wechselwirkungen mit Menschen und Umwelt für die Mustererkennung nicht die – bewährte – Methode der Konstruktion von Ursachen und Vergangenheiten zu nutzen, also den Blick in den Rückspiegel, denn nichts anderes ist die Prognose mittels Daten und Statistik aus Vergangenem. Versuchen wir etwas Neues: Schauen wir auf den Erhalt innerer und äußerer Energieflüsse, den Erhalt dynamischer Gleichgewichte in Systemen und Metasystemen. Fragen wir nach Rückkopplungen, fragen wir nach dem Einfluss unserer eigenen Erlangungs- und Vermeidungsstrategien auf unser Handeln und das Geschehen. Modellieren wir nicht nur mit den quantitativen Daten von gestern, sondern mit - unkalkulierbaren, aber qualitativ ziemlich stabilen - Handlungsmustern aller Beteiligten.Uns zwar sowohl im besten wie im schlimmsten Fall.

Dieser Wechsel der Perspektive ist nicht neu. Er findet sich z.B. in den Erzählungen von George Orwell oder Aldous Huxley und Franz Kafka. In die Wissenschaft zog er mit der Quantenphysik ein. Es ist an der Zeit, ihn nicht nur für den Bau von Lasern, Quantencomputern oder einzelne klinische Anwendungen der Psychologie zu vollziehen, sondern allgemein nutzbar zu machen. Er ist längst dabei, nicht nur das naturwissenschaftliche Denken, sondern insbesondere die Psychologie und Philosophie überhaupt umzuwälzen und zu verändern. Höchste Zeit, ihn auf den in Zukunft wichtigsten Komplex menschlicher Existenz, das Konfliktmanagement anzuwenden

Damit sind wir wieder bei der Frage der Gewalt. Das Ziel von Gewalt ist Destruktion. Sie erstrebt einen chaotischen – regellosen - Zustand, von dem aus eigene Interessen durchgesetzt, fremde Interessen ausgeschaltet oder stark abgeschwächt werden können. Sie nimmt schwere Störungen, ja sogar die Vernichtung des eigenen Systems in Kauf. Gewalt ist nur eine von vielen elementaren Strategien gegen innere oder äußere Störungen des dynamischen inneren bzw. äußeren Gleichgewichts. Auf menschliche Konflikte bezogen: ein Ziel wird erreicht oder ein Schaden vermieden durch destruktives Verhalten; das Risiko, dabei schwereren Schaden zu nehmen oder gar zu Tode zu kommen wird ignoriert. Das kann spontan geschehen oder bewusst, und es wird um so wahrscheinlicher geschehen, je öfter sich die gewaltsame Strategie mit der Erfahrung eines Erfolges verbindet – egal ob es sich um einen vermeintlichen oder wirklichen Erfolg handelt. Darüber entscheidet ausschließlich die subjektive Wahrnehmung. Im pathologischen Fall werden alle anderen möglichen Strategien ausgeschaltet bis zum Amoklauf: der „Totale Krieg“ zerstört andere und sich selbst.
zur Fortsetzung - Abschnitt 6


Goethes Elegien



Goethe warb um die jugendliche Ulrike von Levetzow - der verzweifelte Wunsch, das Alter zu bannen, gebar die "Marienbader Elegien" .

Den Schmerz lass ein. Er sagt: „Du lebst noch, Alter“,
Sagt, „lass mich ruhig an deiner Seite sein
ich bin für die gezählten Tage dein Verwalter
wenn ich dich stör, betäube mich mit Wein.

Es sei ein Bündnis gegen’s frühe Sterben,
gegen den Wunsch zu gehen vor der Zeit.
Ich mache Dich zum letzten Flug bereit
Wie den am Kerzenlicht verbrannten Falter.“

Lass ein den Schmerz, lass Dir den Becher reichen
Der ein für alle mal erprobt dein Sehnen
Hältst Du nicht stand, welkst Du dahin mit jenen
Die greinend sich aus trübem Dasein schleichen.

Du musst ihn wollen, diesen Weg ins Helle
Der ohne Leiden nicht zu finden ist
Lass ein den Schmerz, verstrichen ist die Frist
Mach einmal noch aus Qualen eine Quelle.

Fühl, wie dir Träume eggen deinen Leib
Streu Würze des Verzichts ins bloße Fleisch
Die Haut aufs Blut zu schinden sei dir Zeitvertreib
Ein letztes, engstes Band von dir zum Weib
Ertrag noch stumm am Pranger das Gekreisch
Hüll dich in letzter Worte dunklen Sinn
Dann wirst du still. Dann nimmt der Schmerz dich hin.

Samstag, 7. Mai 2011

Neonazis und andere Freunde der Meinungsfreiheit

Mileke 

Foto von Erich Mielke aus dem Bundesarchiv, Bild 183-R0522-177 / CC-BY-SA
bei wikipedia "Ich liebe doch alle Menschen"

 

Was befreundete Autoren, die sich mit den Kollateralschäden des SED-Stasi-Sozialismus auseinandersetzen, schon seit Jahren erzählen, wovor ich mich hier in meinem schönen Baden-Baden weitgehend sicher fühlte, das erreicht mich nun über die "Social Networks" - nicht unerwartet und unvorbereitet: die Attacken von mobbenden, spätberufenen Verteidigern der DäDäÄrr. Sie leben nicht in Schwedt an der Oder, Berlin-Lichtenberg oder Suhl in Thüringen, sondern seit ihrer Geburt im Westen, haben das bis heute merkliche Defizit an Konfliktkultur in der Bundesrepublik als persönliche Verfolgung, als Ungerechtigkeit, sich selbst als gedemütigte “Linke” in einer Welt des US-dominierten Kapitalismus, der integrierten Nazimitläufer empfunden: Helden höherer Moral in einer feindlichen Welt. Nur wenige schafften es, durch einen Aufenthalt in Stuttgart-Stammheim die Brutalität zu beglaubigen, mit der “das System BRD” gegen seine Kritiker vorging. Die meisten wurden einfach Lehrer, Kleinkünstler oder Empfänger staatlicher Fürsorge. Es war nicht einfach, es nach Stammheim zu schaffen. Bautzen ging viel, viel leichter. Aber – mal ganz ehrlich: das hätten sie auch nicht ausgehalten, ohne hartgesottene Antikommunisten zu werden.

Noch nehme ich die mir von der guten alten Stasi vertraute Zuwendung  mit Humor. Die Posts solcher Leute sind von einer Schlichtheit, die sie mit Angestellten der SED-Kreisleitung Posemuckel auf gleiche Höhe bringt, was jeden 14jährigen Facebooknutzer zu Lachnummern inspiriert - aber der aggressive Furor ist unüberseh-, unüberhörbar. Wenn einer sich selbst nur einfach mal das Geschriebene vorliest, schwinden letzte Zweifel:

Kämen sie wieder zur Macht - sie liebten uns auf ihre Weise. Ohne Gnade.

Freitag, 29. April 2011

Ein Friedhofsjahrgang – ein Zeitalter

Recherchen zu einem Buch nehmen manchmal seltsame Umwege: Meine Erinnerungen an das Jahr 1976 sind ziemlich präsent, trotzdem vergewissere ich mich bisweilen – etwa darüber, was gerade in der Welt geschah, während Gustav Horbels Regiestudium knapp vor einem abrupten Ende stand.

Als schritte ich eine lange Reihe von Gräbern entlang, so ist mir bei Betrachtung dieses Jahres 1976, und vor jedem Stein oder Kreuz muss ich verweilen, weil mein eigenes Leben auf besondere Weise mit den Toten verbunden ist: jetzt, 35 Jahre nach ihrem Tod sogar intensiver als damals. Komme ich selbst dem Tod immer näher, da ich mich nun schon jahrzehntelange mit den Hingeschiedenen befasse? Oder zeigt sich an diesem Phänomen die Ganzheit der Welt, in der jeder mit allem verbunden, womöglich in einem die Zeiten übergreifenden Sinn “verschränkt” ist?

Werner Heisenberg verdanke ich meine Vorstellungen von der Quantenphysik; die Frage, ob er den Nationalsozialisten zur Atombombe verhelfen wollte, hat mich lange beschäftigt - zu seinem 100sten Geburtstag habe ich 2001 einen Film gemacht. Die Gedankenwelt des Philosophen Martin Heidegger lernte ich erst in den 80er Jahren kennen; er war in der DäDäÄrr nicht geschätzt, aber für mein Buch “Der menschliche Kosmos” war sein Blick auf die Technisierung der Welt eine Hilfe. Gustav Heinemann, der Bundespräsident der Ära Brandt,  hatte 1950 aus christlicher Überzeugung die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik abgelehnt, war als CDU-Innenminister zurückgetreten, weil er fand, dass Adenauers Politik die deutsche Spaltung vertiefte.

Ein folgenschweres Erdbeben in China 1976 sahen manche als Vorzeichen für den Tod Mao Zedongs, das folgende politische und wirtschaftlich Beben hat die Welt erfasst, auch wenn manche es immer noch nicht merken wollen. In Deutschland starben vier “Überzeugungstäter” in jenem Jahr; ihre Motive könnten gegensätzlicher nicht sein, ihre Schicksale weisen – jedes für sich – auf bis heute unbewältigte Konflikte: Michael Gartenschläger wird von einem Stasi-Kommando erschossen, als er mörderische Sprengfallen an der Innerdeutschen Grenze abmontiert, Flüchtlinge aus dem Osten – so beschrieb es ein hoher NVA-Offizier – “verarbeiteten sich selbst zu Hackfleisch”, wenn sie diese Todesautomaten auslösten. Ulrike Meinhof, von der Gustav Heinemann gesagt hatte: „Mit allem, was sie getan hat, so unverständlich es war, hat sie uns gemeint.“, erhängte sich in ihrer Gefängniszelle, ihrem Tod folgte eine Welle von Terrorakten. Anneliese Michel, 24jährige Pädagogikstudentin, wird Opfer eines Exorzismus – religiöser Wahn im idyllischen Mainfranken. Die Evangelische Kirchenführung im Osten sieht tatenlos zu, wie der Pfarrer Oskar Brüsewitz an seinen Konflikten mit dem SED-Staat zerbricht, er verbrennt sich vor der Zeitzer Michaelskirche.

Da wären noch die Erinnerungen an Max Ernst, Fritz Lang, Man Ray, André Malraux, Benjamin Britten und – ja! – auch an den Miterfinder der sowjetischen Düsenjäger der MiG-Serie, Michail Gurewitsch.

Am Ende des Spaziergangs zwischen den Gräbern von 1976 ist große Dankbarkeit: irgendwo wartet die eigene Reihe, wer Glück hat, muss nicht zu lange ausharren, und Vergessen kann auch eine Gnade sein.

Mittwoch, 9. März 2011

Literatur als Lebensrettung – Eberhard Haufe zum 80sten


Eine “Not- und Erstlingsarbeit” nennt Eberhard Haufe seine Anthologie deutscher Mariendichtung aus dem Jahr 1960. Er tut das 1993 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Weimar-Preises, einer Auszeichnung, die er längst verdient hatte. Aber als er jene Anthologie herausgab, hatten ihn marxistisch-leninistische “Säuberer” aus der Universität Leipzig entfernt, er war stellungslos, hätte wohl wie mancher Geschurigelte den Weg nach Westen wählen können. Er ging nicht, er suchte sich sein Arbeits- und Überlebensfeld in der Literatur und fand so einen eigenen Weg – sich von den ideologischen Versatzstücken des Ostens ebenso fernhaltend wie von westlichen Modeströmungen. Der “Not- und Erstlingsarbeit” folgten reihenweise lesenswerte Essays zur deutschen Literatur; der Wallstein Verlag Göttingen hat eine Auswahl in dem vorliegenden Buch zum achtzigsten Geburtstag des Autors zusammengeführt, es besticht schon durch seine editorische Sorgfalt.
Mir gefiel der Essay zur Geschichte der Mariendichtung, da er mich auf unvertrautes Terrain führte. Mir gefielen Haufes Texte zu den Dichtern des 17. Jahrhunderts um so mehr, als ich meine Bekanntschaft mit ihnen Arno Schmidt verdanke. Haufe nahm mich nun wieder zu einer überaus anregenden, mit sprachlichem Detailreichtum begleiteten Exkursion in die literarische Landschaft während und nach dem grausamen 30jährigen Krieg mit. Die Lektüre ist anspruchsvoll, aber niemals akademisch überfrachtet, sie weckt den Wunsch, Texte von Fleming, Brockes, Paul Gerhardt – um nur drei von vielen zu nennen – aufs Neue mit dem von Haufe geschärften Blick zu lesen.
Das gelingt ihm, weil er die Klassiker im Weimarer Schillerarchiv, wo er zehn Jahre lang beschäftigt war, als “zwar vergangenes, doch unvergängliches Leben” begriff, “die Schreiber waren nahe. lebendige Menschen”. Der “Sachse im Weimarer Exil” ist sich bewusst: “So geschätzt diese Arbeit mit ihrem übergreifenden inneren Gewinn war, so nahe lag gleichwohl die Gefahr des Elfenbeinturms im Schatten oder im Lichte der Heroen und Ortsheiligen”, und er hat sich dieser Gefahr ebenso eindrucksvoll entzogen wie der politisch linientreuen “Erbepflege” der DDR-offiziellen Literaturwissenschaft.
Haufes Schriften zur deutschen Literatur werde ich künftig gerne zu Rate ziehen, wenn ich Entdeckungsreisen in die Dichtung aus vier Jahrhunderten unternehmen und mich dabei so verständig wie unterhaltsam führen lassen möchte; ich empfehle literarischen Neulingen das Buch ebenso wie Fachleuten.
Wenn bei der Lektüre Zweifel an mir nagen, ob meine eigene Literaturproduktion Gnade vor den Augen des Gelehrten fände, versichere ich mich einfach des von ihm vorgelebten Prinzips: Literatur ist ein lebensrettender Raum, dort zählen Applaus und theoretische Erwägungen jedenfalls weniger als die Arbeit an dem Buch, das wir sind – und in ihm sind die gelesenen Texte aufgehoben.

Eberhard Haufe “Schriften zur deutschen Literatur”
Wallstein Verlag Göttingen 2011; 542 Seiten, 34,90 €
Literatur als Lebensrettung – Eberhard Haufe zum 80sten

Dienstag, 4. Januar 2011

Der Wahn der Saubermänner:



Es ist zunächst die Meldung von chinesischen Erfolgen bei der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennstäbe, die Interesse weckt. Wenn man dann die Kommentare zum SPIEGEL-Artikel liest, wird einem klar, wie kontaminiert manche Gehirne von "Saubere- Energie"-Parolen sind.

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