Mittwoch, 28. November 2012

Kapitel 2 (12)

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Es ist kein Wunder, dass es Reformen im Management gegenüber den altbewährten Hierarchien schwer haben. Primaten- und Feudalrituale verfilzen sich mit den mechanischen Aufbauorganisationen Erst in den vergangenen fünfzig Jahren haben die Wissenschaften begonnen, den Standpunkt der Mechanik, den „objektivierenden Subjektivismus“ in Frage zu stellen. Er beherrscht unsere Wahrnehmung, unser gesamtes Denken, unsere Kultur, unsere Umgangsformen, weil er sehr erfolgreich war - bis hin zur Rechtfertigung von Massenkriegen und Massenvernichtung.
Die zunehmend an-Gestell-te Wissenschaft der letzten dreihundert Jahre hat eine nützliche Einteilung unterschiedlicher Räume für Wechselwirkungen eingeführt: physikalische, chemische, biologische, soziale, psychologische. Die Einteilung diente dazu, diese Räume zu erkunden und sie mit geeigneten Instrumentarien zu beherrschen. Immer aber trat dabei der forschende Mensch seinem Forschungs- Objekt als „unbeteiligter“ Beobachter gegenüber und betrieb eine Suche nach „objektiver Wahrheit“. Die Suche nach Gesetzen, die sichere Vorhersagen ermöglichen, hat enorme Veränderungen in allen Lebensbereichen bewirkt. Maschinen und Automaten vervielfachten die Warenproduktion, Chemie und Biologie insbesondere trieben die Hungersnöte aus großen Teilen der Welt. Die Arbeitsorganisation erreichte globale Ausmaße – die von ihr verursachten Katastrophen auch. Denn die an-Gestell-te Wissenschaft ist blind für viele von ihr heraufbeschworene Gefahren, weil sie selbst als Gestell strukturiert und organisiert ist. Der „Wissenschaftsbetrieb“ bringt die gleichen Szenarien und Rollenangebote für die Forscher, Laboranten und Hochschullehrer hervor, wie jedes andere Gestell.
Dietrich Schwanitz hat in seiner amüsanten SatireDer Campus[1] die Auswüchse des Lehr- und Wissenschaftsbetriebes an einer deutschen Universität gegeißelt - und damit bei Beamten und Angestellten (vor allem in den Führungsetagen) genau die apparathaften Rituale in Gang gesetzt, die er geschildert hatte. Er wurde als Nestbeschmutzer beschimpft und seine Schilderung als übertrieben abgetan. Das Rollenverhalten der sich beleidigt gebenden Kollegen bestätigte die Blindheit vieler Wissenschaftler gegenüber den kritikwürdigen Zuständen an ihrer Hochschule. Die eigene Stellung zu sichern - egal ob damit Stagnation bewirkt und folglich das Niveau von Lehre und Forschung preisgegeben wird - ist ihnen wichtiger, als eine Risikobereitschaft und Engagement erfordernde Arbeit an den veralteten Strukturen.
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[1] Dietrich Schwanitz „Der Campus“, München, Goldmann 1996




Montag, 26. November 2012

Kapitel 2 (11)

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Die Notlage in den Führungsetagen wird meist erst dann wahrgenommen, wenn Unternehmen am Abgrund stehen, oder wenn nach einem Firmenzusammenbruch Schuldige gesucht werden. Und spätestens hier wird auch deutlich, wo die Wurzel des Übels liegt: dass nämlich Organisationen und ihre Angestellten in der Regel in mechanischen Kausalzusammenhängen denken und gedacht werden, nach dem einfachen und jahrhundertelang erfolgreichen Prinzip von Ursache und Wirkung, ohne Sinn für komplexe organische Strukturen, für deren Wachstum und Dynamik. Demzufolge werden auch Probleme im Führungsbereich gewissermaßen „ingenieurtechnisch“ behandelt; es wird nach Instrumentarien gesucht, persönliche Mängel ab- und den geregelten Betriebsablauf wieder herzu-„stellen“ - als ob sich Persönlichkeitsstrukturen mit Stellschrauben bedienen ließen.
Versuchen Sie einmal, einen Vorgesetzten zu finden, der ungeschminkt gesteht, am liebsten nach der „3-K“-Methode (Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren) vorzugehen. Sie werden subtilste Verstecke und Variationen finden und bestenfalls eine sehr fintenreich ausgeführte Begründung, warum diese Methode - zumal in menschenfreundlich reformierter Form - unübertroffen ist. 1992 führte der Wirtschaftsjournalist Günter Ogger einen Großteil der deutschen “Wirtschaftseliten” als „Nieten in Nadelstreifen“ in seinem gleichnamigen Buch vor, es erreichte eine Millionenauflage. Die Frankfurter Autoren Rainer Popp und Jens- Christian Ludwig versuchten 1997, diesen Nieten undMonstern in Maßanzügenmit dem Vorschlag beizukommen, es mögen in den Unternehmen und Organisationen Vorgesetzte gewählt werden, wie in einer parlamentarischen Demokratie. „Bosse nach Wahl“ (so der Titel ihres Buches) hat es bis heute nicht gegeben, obwohl es 1998 kurzzeitig schien, als ob einzelne Unternehmen einem solchen Versuch eine Chance zugestünden.
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Sonntag, 25. November 2012

Kapitel 2 (10)

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Je höher ein Angestellter in den Verantwortungsebenen aufsteigt, je mehr er für die Arbeitsorganisation und damit die Arbeit anderer verantwortlich ist, umso weniger genügt die rein fachliche Qualifikation, umso mehr kommen Führungsqualitäten ins Spiel. Wie aber sollen sie wachsen, wenn die egalisierende, quantitativ fixierte Angestellten- Kultur allgegenwärtig ist - von der Schule über die Berufsausbildung und die Universitäten bis in die Medien hinein?
Denn mit dem explosiven Wachstum der großen Industrien und ihrer Arbeitsorganisation im 19. und 20. Jahrhundert wurde das individuelle Verhalten der Menschen in allen Bereichen immer stärker den Bedürfnissen der Technik angepasst. Insbesondere der Austausch von Informationen, im Zeitalter der Globalisierung wahrhaft der Lebensnerv, sollte möglichst vollkommen „objektiviert“, „versachlicht“, also von störenden emotionalen Einflüssen befreit werden.
Als Beispiel möge der Eisenbahner dienen, der Weichen nach den Vorgaben seiner Dienstordnung und der aktuellen Meldungen der Telefone bzw. Signalleitungen stellt. Seine Entscheidungen hat er so zu treffen, dass der Verkehr reibungslos läuft. Persönliche Spielräume, Spontaneität und Kreativität gehören nur ausnahmsweise zu seiner Tätigkeit; seine Gefühle und persönlichen Ansichten hat er auszublenden. Im Extremfall wird er zumRädchen im Getriebe“, das besinnungslos auch die Güterwagen nach Auschwitz am Rollen hält.
Über solche Auswirkungen des Industriezeitalters ist viel nachgedacht und geschrieben worden. Offensichtlich ist, dass die „Versachlichung“ der Informationsflüsse und Arbeitsabläufe in immer neue Schübe der Automatisierung und Rationalisierung mündet - der Mensch wird entbehrlich. Ein automatisiertes Stellwerk macht keine Fehler, es trinkt nicht und büßt nicht wegen eines Ehekrachs an Aufmerksamkeit ein.
Andererseits werden in Bereichen, wo Menschen nicht ersetzbar, möglicherweise sogar unentbehrlich sind, gefühlsbedingte Störungen deutlicher wahrgenommen: „Mobbing“, „Burn-out-Syndrom“, „innere Kündigung“: die Liste der Schlagworte wächst noch. Nun ist allgemeine Besinnung auf den Menschen als „wichtigstes Kapital“ zu beobachten. Der Erwerb und die Schulung „sozialer Kompetenz“ werden gefordert und alsbald werden Dienstleistungen auf den Markt geworfen, die - möglichst mittels eines Nürnberger Trichters im Drei- Tage- Seminar - quantitativ verfügbar machen sollen, was sich nicht quantifizieren lässt: menschliche Qualitäten.
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Samstag, 24. November 2012

Kapitel 2 (9)

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Es gehört wenig Phantasie dazu, sich Schadenfreude und Rachegelüste der neuen alten Untergebenen auszumalen. Viel interessanter ist, dass die redaktionelle Arbeit von diesen Vorgängen natürlich nicht profitierte und dass in der Folge unser Mann in eine andere Rolle geriet: zwischen die Mühlsteine. Der Direktion gegenüber musste er loyal sein, er durfte sich nicht noch einmal als Fehlbesetzung erweisen, denn das Scheitern in der neuen Position hatte sein Image grundsätzlich beschädigt. Die Mitarbeiter, die er mit seinem Plädoyer für einen externen Nachfolger vor den Kopf gestoßenen hatte, musste er auf Abstand halten und feindliche - also praktisch alle - Allianzen verhindern. Damit war eine gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr möglich; seine neue Rolle war, die Politik der Geschäftsführung nach untendurchzustellen“. Aus dem Abteilungsleiter wurde ein mutloser Nebendarsteller, der dafür bemitleidet werden wollte, dass er auch noch die dümmsten Anweisungen ohne Rücksicht auf die Qualität der Sendungen und die Interessen seiner Kollegen erfüllte.
Die Mitarbeiter praktizierten passende destruktive Gegenrollen. Die mit eigenem Gestaltungswillen verließen die Redaktion oder richteten sich in Nischen ein. Das Ende der Geschichte war, dass die Sendungen sich auf konfuse und gesichtslose Art dem anpassten, was überall gesendet wird und womit sich die Geschäftsleitung konfliktfrei arrangieren konnte. Niemandem würde es auffallen, wenn das Kulturmagazin dieses Senders durch irgend ein anderes Kulturmagazin ersetzt würde: Der Kampf um die Positionen im Gestell war wichtiger als der um das unverwechselbare Gesicht der Sendung.
Das ist das Dilemma: Je höher ein Angestellter in den Verantwortungsebenen aufsteigt, je mehr er für die Arbeitsorganisation und damit die Arbeit anderer verantwortlich ist, umso weniger genügt die rein fachliche Qualifikation, umso mehr kommen Führungsqualitäten ins Spiel. Wie aber sollen sie wachsen, wenn die egalisierende, quantitativ fixierte Angestellten-Kultur allgegenwärtig ist - von der Schule über die Berufsausbildung und die Universitäten bis in die Medien hinein?
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Freitag, 23. November 2012

Kapitel 2 (8)

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In den Gründerjahren des Privatfernsehens agierten Geschäftsleute, Akquisiteure für Werbung, Glücksritter und Boulevardjournalisten. Sie konnten sich glücklich schätzen, jemanden mit einiger Vorbildung in Kunst und Kulturgeschichte zu finden. Denn damals mussten sie noch in den klassischen Sparten, also auch im Feuilleton, mit den öffentlich-rechtlichen Programmen konkurrieren. Der Schauspieler reüssierte, weil er die Idealbesetzung für die freie Rolle war. Er kannte sich im Kulturressort aus und hatte Sinn für Qualität, ohne selbst alles besser wissen zu müssen. Er war kein Star mit Allüren, sondern ein erfahrener Mann fürs Nebenfach. Er hatte vollmundige Angeber als Regisseure scheitern sehen und verstand sich auf die Nöte freier Mitarbeiter, kurz: als Leiter einer Kulturredaktion konnte er Talente fordern und fördern und mit den unzulänglichen Mitteln des Neubeginns Sendungen zustande bringen, die den teuren Magazinen großer Fernsehanstalten in nichts nachstanden. Die Arbeitsatmosphäre in seiner Redaktion war aufgeschlossen; unterschiedliche Begabungen entfalteten sich, und der Mann war als Abteilungsleiter angesehen.
Natürlich gab es - wie überall im Gestell - Neider. Natürlich waren das die nächsten Mitarbeiter. Denn niemand glaubt fester an die eigene menschliche und fachliche Überlegenheit gegenüber dem Vorgesetzten, als die ihm unmittelbar untergebenen. Die Katastrophe begann, als ihm ein hoher Posten in der Administration angeboten wurde und er ihn akzeptierte. Er hatte nicht den Mut, darüber rechtzeitig mit seinen Mitarbeitern zu reden und insbesondere die Frage seiner Nachfolge zu klären. Fast alle fühlten sich dadurch übergangen und hofften zugleich, Anwärter auf die Redaktionsleitung zu sein. Der Aufsteiger aber befürwortete aus der höheren Ebene des Gestells einen externen Bewerber als neuen Ressortchef.
Dafür wurde er gehasst. Solchen Gefühlen begegnen Funktionäre der oberen Etagen üblicherweise mit Gelassenheit oder Zynismus; ernsthafte Gefahr erwächst ihnen nur auf gleichem oder höherem Niveau. Unser Mann aber hatte Pech. Die neue Funktion verlangte betriebswirtschaftliche und juristische Fähigkeiten; die schnellen Veränderungen in der Medienbranche ließen ihm keine Zeit, sich dafür zu qualifizieren. Er scheiterte, und die Geschäftsführung schickte ihn in einem Anfall falsch verstandener Loyalität auf seinen alten Arbeitsplatz zurück.
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Donnerstag, 22. November 2012

Kapitel 2 (7)


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Die Strukturen des Gestells sind nicht einheitlich. Es kann sich um strenge Hierarchien mit Unterordnungsverhältnissen von militärischem Zuschnitt handeln: Arbeit wird nach Befehl und Gehorsam organisiert – so wie heute noch in vielen Fabriken in China und Südkorea. Bei einem patriarchalisch regierenden schwäbischen Mittelständler können sich Angestellte wohl fühlen, weil der Chef seine Mitarbeiter in familiärer Art fordert und fördert, von demokratischer Mitsprache aber wenig hält. Gleichwohl haben die Gestelle Eines gemeinsam: der Angestellte muss individuelles Verhalten, muss seine Interaktionen, sein Auftreten auf die Verhältnisse seiner Arbeitsumgebung einrichten. Das Gestell hält charakteristische Rollenangebote bereit - der Angestellte wird sich bemühen, die bestbezahlte zu ergattern und er wird fortan einen großen Teil seiner Energie darauf verwenden, nicht als Fehlbesetzung dazustehen.
Rollenverteilung im Theater und Rollenverteilung im Gestell können manchmal Biographien von erhellender Logik hervorbringen:
Ein Schauspieler wurde über viele Jahre am Theater und beim Fernsehen regelmäßig in Nebenrollen besetzt, die seiner beamtenhaften Ausstrahlung entsprachen. Er war keineswegs erfolglos, er wurde an namhaften staatlichen Bühnen beschäftigt, aber er war unzufrieden. Seine Laufbahn hatte an den großen Rollen vorbeigeführt: kein Hamlet, kein Faust, kein Mephisto oder König Lear kam in greifbare Nähe. Nicht einmal die lausigste Provinzbühne in Sachsen- Anhalt hätte ihm einen König anvertraut - außer vielleicht den etwas trotteligen im Weihnachtsmärchen. Kurzum: seine Karriere entfaltete sich vor allem in der Kantine, wo er seine besten Witze ebenso wie seine traurige Stimmung und Teile seines Einkommens im Kollegenkreis ausbreitete.
Das missfiel seiner Ehefrau - in der Ehe war er offensichtlich auch nicht der König - , und als Anfang der achtziger Jahre neue private Fernsehsender wie Pilze aus dem Boden schossen, drängte sie ihn, sich um eine Anstellung als Kulturredakteur zu bemühen.
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Freitag, 2. November 2012

Kapitel 2 (6)

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Das wäre vielleicht der Punkt, auf eine spezifische Moral des Angestellten zu sprechen zu kommen. Aber wir stoßen auf ein kompliziertes Gemenge: Nationalität, Ideologie, soziale Schichtungen und kulturelle Prägungen des 19. Jahrhunderts spielen gerade bei dem in Deutschland übermächtigen Bedürfnis nach sozialer Sicherheit ebenso mit, wie bei der Bereitschaft zur Illoyalität[1]. Dennoch scheint die Erfahrung des Angestellt-Seins die Oberhand zu gewinnen.
Jeder Teil des Gestells wird nur auf den jeweils günstigsten Angestellten, d.h. eine quantifizierbare Leistung zurückgreifen und wechselt ihn gegebenenfalls gnadenlos - also ohne „Moral“ - aus. Das ist ein - quantitativ - faires Verhältnis. Die Qualitäten des einzelnen über die schiere Funktion im Gestell, über den Arbeits-Marktwert hinaus sind zweitrangig, manchmal sogar störend. Sie müssen auch in den Augen des Angestellten selbst wertlos erscheinen - und dadurch sieht er sich zugleich ungerecht bewertet.
Sie kennen vielleicht den hübschen Spruch: „In jeder Organisation gibt es eine Person, die kompetent ist und bescheid weiß. Es kommt darauf an, diese Person zu finden und unverzüglich zu entlassen, damit die Organisation funktioniert“.
Menschen, die aus dem Gestell herausfallen, leiden psychisch. Sie verlieren das Selbstvertrauen und empfinden sich als „wertlos“. Dieses Gefühl wird von den Kulturverwesern des Gestells - den an-Gestell-ten Partei-, Gewerkschafts- und Medienfunktionären gepflegt und gehätschelt. Selbständig denkende und handelnd ihr Leben gestaltende Menschen brauchen nämlich weder Mitleid noch bevormundende Fürsorge. Aber innerhalb des Gestells werden ihnen kaum andere als die bezahlten Leistungen abverlangt und sie haben nie gelernt, ihre Qualitäten selbst zu erweitern und zu vermarkten. „Freigesetzt“ klingt ihnen wie „ausgesetzt“.
Für den Angestellten zählt nur eines: seine STELLUNG im GESTELL SICHERZUSTELLEN. Dann kann er im Brustton der Überzeugung seiner kochenden und Kinder erziehenden Frau erklären: „Was leistest du denn schon. Ich sorge schließlich für die Existenz".
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[1] Margret Boveri „Der Verrat im 20.Jahrhundert“, Rowohlt, Hamburg 1956

Donnerstag, 1. November 2012

Kapitel 2 (5)

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So wie der Günstling des Königs dessen Zorn muss der Angestellte fürchten, gegen die Maßgaben seiner Firma, gegen die ihm zugewiesenen Rolle in der Hierarchie - im Gestell - zu verstoßen. Das Schicksal eines einzelnen Unternehmens braucht ihm dabei nur so lange wichtig zu sein, als ihm seine Dienste hinreichend vergolten werden und nicht ein komfortablerer Platz in einem anderen Unternehmen, einer Behörde oder sonst einer Organisation winkt.
Der schnelle Zusammenbruch der DDR 1989 und die unaufhaltsame deutsche Vereinigung unter denWir sind ein Volk“ - Rufen der Bevölkerung des hinfälligenArbeiter-und-Bauern-Staateshaben weniger mit nationaler Sehnsucht - umso mehr mit der Tatsache zu tun, dass die DDR ein fast perfektes Gestell war. Spätestens 1972 waren im Osten Deutschlands die Unternehmer als soziale Schicht eliminiert. Freiberufler waren fast bedeutungslos. Imreal existierenden Sozialismus“ (zu diesem Begriff wird später noch einiges zu sagen sein) gab es praktisch nur Angestellte. Deren Loyalität gegenüber dem Großkonzern DDR mit seinen vielen Tochterunternehmen - den Kombinaten der Industrie, den Produktionsgenossenschaften in Handwerk und Landwirtschaft, den Heerscharen von Behördenangestellten - war durch nichts leichter und zugleich nachhaltiger zu erschüttern, als durch die Aussicht auf viel bessere Anstellungsverhältnisse in den Unternehmen und Organisationen des Westens. Deren marktwirtschaftlicher Erfolg erschien via Werbefernsehen und Intershop zum Greifen nah und zugleich unerreichbar fern.
Tatsächlich trägt die deutsche Vereinigung Züge derfeindlichen Übernahmeeines bankrotten Unternehmens durch einen starken Konkurrenten. Besonders deutlich wird das im jahrelangen, von Korruption, Schiebungen, Erpressungen begleiteten Agieren der „Treuhandanstalt“. Und nicht zuletzt dieStaatsdienerin Polizei, Armee und Verwaltung verhielten sich in der Mehrheit vollkommen anpassungsbereit gegenüber einer Gesellschaft, die ihrer alten Unternehmensführung als schlimmster Feind galt, alsKlassenfeind“ - in der quasireligiösen Ideologie der totalitären Parteien also als der Teufel. Das schmälerte selbst bei hohen Offizieren, die bis zum Herbst 1989 glaubwürdig ihre Bereitschaft zum Atomschlag gegen den Klassenfeind bekundeten, nicht die selbstgewisse Bereitschaft, sich bei Militär, Polizei oder Geheimdienst der fusionierten Deutschland AGeben des Teufelsanstellen zu lassen. Der Erfolg gab vielen Recht.
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