Donnerstag, 22. November 2012

Kapitel 2 (7)


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Die Strukturen des Gestells sind nicht einheitlich. Es kann sich um strenge Hierarchien mit Unterordnungsverhältnissen von militärischem Zuschnitt handeln: Arbeit wird nach Befehl und Gehorsam organisiert – so wie heute noch in vielen Fabriken in China und Südkorea. Bei einem patriarchalisch regierenden schwäbischen Mittelständler können sich Angestellte wohl fühlen, weil der Chef seine Mitarbeiter in familiärer Art fordert und fördert, von demokratischer Mitsprache aber wenig hält. Gleichwohl haben die Gestelle Eines gemeinsam: der Angestellte muss individuelles Verhalten, muss seine Interaktionen, sein Auftreten auf die Verhältnisse seiner Arbeitsumgebung einrichten. Das Gestell hält charakteristische Rollenangebote bereit - der Angestellte wird sich bemühen, die bestbezahlte zu ergattern und er wird fortan einen großen Teil seiner Energie darauf verwenden, nicht als Fehlbesetzung dazustehen.
Rollenverteilung im Theater und Rollenverteilung im Gestell können manchmal Biographien von erhellender Logik hervorbringen:
Ein Schauspieler wurde über viele Jahre am Theater und beim Fernsehen regelmäßig in Nebenrollen besetzt, die seiner beamtenhaften Ausstrahlung entsprachen. Er war keineswegs erfolglos, er wurde an namhaften staatlichen Bühnen beschäftigt, aber er war unzufrieden. Seine Laufbahn hatte an den großen Rollen vorbeigeführt: kein Hamlet, kein Faust, kein Mephisto oder König Lear kam in greifbare Nähe. Nicht einmal die lausigste Provinzbühne in Sachsen- Anhalt hätte ihm einen König anvertraut - außer vielleicht den etwas trotteligen im Weihnachtsmärchen. Kurzum: seine Karriere entfaltete sich vor allem in der Kantine, wo er seine besten Witze ebenso wie seine traurige Stimmung und Teile seines Einkommens im Kollegenkreis ausbreitete.
Das missfiel seiner Ehefrau - in der Ehe war er offensichtlich auch nicht der König - , und als Anfang der achtziger Jahre neue private Fernsehsender wie Pilze aus dem Boden schossen, drängte sie ihn, sich um eine Anstellung als Kulturredakteur zu bemühen.
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