Donnerstag, 24. Januar 2013

Der unvermeidliche Vorgriff

Demnächst veröffentliche ich hier die überarbeitete Fassung von “Der menschliche Kosmos”, Kapitel 3, Darin spielt der Begriff der Antizipation eine wesentliche Rolle. Gemeint ist das seltsame, aber messbare Phänomen, dass Gehirn und Körper mit einer Handlung längst fertig sind, wenn wir darüber zu entscheiden meinen. Der Quantenphysiker Nils Bohr hat das anhand eines Duells mit Spielzeugpistolen seinen Mitarbeitern einmal veranschaulicht: Wer zuerst schoss, verlor meistens, wer nur reagierte – natürlich Bohr selbst - war schneller. Der Spaß ist inzwischen experimentell untermauert. Während der erste bewusst entscheiden musste, antizipierte der zweite die Aktion. Tennisspieler, Squasher und andere Ballspieler kennen das Phänomen unterm Schlagwort “Wer denkt, hat verloren”.

Die Antizipation ist schneller, aber auch mit mehr Fehlerrisiko behaftet, salopp gesprochen “quick and dirty”.

Wie unvermeidlich wir im Alltag antizipieren, also Urteile fällen und Entscheidungen treffen, ohne für komplexe Sachverhalte auch nur annährend vollständige Informationen zu haben, geschweige sie bewerten zu können, zeigt sich besonders, wenn wir Menschen einschätzen. Der “erste Eindruck” (“quick”) prägt unser nonverbales Verhalten augenblicklich. Begrüßungsrituale, Konventionen der kulturell geprägten “display rules” verhindern, dass es in der Folge “dirty” wird und zu schwer korrigierbaren Zusammenstößen kommt.

Bei Nietzsche findet sich dazu in “Menschliches Allzumenschliches” ein interessanter Artikel (32. Ungerechtsein notwendig):

Friedrich Nietzsche ca. 1875“Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! — denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles, existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.”

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