Montag, 18. Februar 2013

Kapitel 3 (4)

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Philosophen, Hirnforscher, Ideologen und Politiker wüssten gar zu gern, wie Denken, Fühlen und Handeln der Menschen funktionieren und wie sie kontrolliert werden könnten. Auch Vanessa Schulze hätte gern ein sicheres Rezept für die eheliche Treue ihres Mannes, gern verließe sie sich nicht nur auf Zufall und das schiere Fehlen einer Gelegenheit zu Seitensprüngen.
Sie alle werden diese Kontrolle nie erlangen; sie werden damit leben müssen, immer nur einzelne Ziele zu erreichen und nur für eine begrenzte Zeitspanne. Jeder Handlungsimpuls eines Menschen erfolgt aus einem komplexen Zusammenhang bewusster und unbewusster Strebungen, er resultiert aus widersprüchlichen Gefühlen und einem ganzen Spektrum möglicher Strategien, und die Entscheidung über seine Richtung hängt selten vom Bewusstsein ab; mit anderen Worten: das bewusste „Ich“, das wir mit dem „freien Willen“ gleichsetzen, hat wenig zu sagen, weil es in einem ununterbrochen ablaufenden Geschehen, in der Selbsterhaltung eines Organismus mit ihren höchst komplexen Wechselwirkungen zwar eine nützliche, aber auch eine ziemlich unbedeutende, häufig sogar eine störende Instanz ist. Das weiß jeder Sportler, der im falschen Moment nachdachte, was er tun soll, während er den Ball verschoss, den Sprung verpatzte oder beim Rennen aus der Kurve flog.
Vorläufer des Badminton
„Wer denkt, hat verloren!“: diesen Spruch gebrauchen wir beim Volleyball, Squash oder Badminton immer wieder, wenn die Zehntelsekunde gedanklicher Entscheidung zwischen Vor- oder Rückhand, Lop oder Schmetterschlag, lang oder kurz gespieltem Ball den Reflex – damit den Fluss andauernden Antizipierens von Bewegungen des Balls und des Gegners – unterbricht und wir ihn verlieren. Wir geraten an das seltsame, aber messbare Phänomen, dass Gehirn und Körper mit einer Handlung längst fertig sind, wenn wir darüber zu entscheiden meinen.
Der Quantenphysiker Nils Bohr hat dieses Phänomen anhand eines Duells mit Spielzeugpistolen seinen Mitarbeitern einmal veranschaulicht: Wer zuerst schoss, verlor meistens, wer nur reagierte – natürlich Bohr selbst - war schneller. Der Spaß ist inzwischen mehrfach experimentell untermauert. Während der erste bewusst entscheiden musste, antizipierte der zweite die Aktion.
Unser Gehirn und Körper antizipieren einfach ununterbrochen; fast für jede Situation werden automatisierte Abläufe – vom simplen Reflex bis zur Ergänzung völlig verstümmelter Texte – vorgehalten. Nur ausnahmsweise erleben wir so etwas wie Schockstarre, bleibt uns „die Spucke weg“ oder „das Herz stehen“. Antizipation ist messbar schneller als jede gedankliche Entscheidung – aber auch mit mehr Fehlerrisiko behaftet, salopp gesprochen “quick and dirty”.
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