Freitag, 15. Dezember 2017

Kapitel 6 (6)

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Das Leben des Pilzes frisst die Lebensenergie des Baums
Kommen wir auf die verfügbare Zeit zurück. Wir reden von nichts anderem als einem Energieverhältnis. Keinem uns bekannten dynamischen System – egal ob „belebt“ oder „unbelebt“ – steht für seine Interaktionen unbegrenzt viel Energie zur Verfügung. Das Energiepaket eines Menschen hat im Allgemeinen eine Größenordnung von einigen zehn (heute durchschnittlich fast achtzig) Jahren. Wie weit dieses Reservoir in den Interaktionen mit der Umgebung ausgeschöpft wird, hängt von Anfangs- und Randbedingungen ab, aber wir wollen katastrophale Verläufe einmal ausblenden.
Die Reichweiten unserer Interaktionen liegen alle in einer bestimmten Größenordnung und unsere gesamte Wahrnehmung ist auf diese Größenordnung „geeicht“. Die biologische Uhr des Menschen bezieht sich vollkommen auf seine Energieaustauschprozesse. Sie registriert während heftiger seelischer und körperlicher Aktivität einen anderen „Zeitverbrauch“ als in passiven Phasen.
Was, soviel Zeit ist schon vergangen?“, fragen sich die Liebenden, wenn sie zur Uhr schauen, „so wenig erst!“, denkt zur gleichen Zeit der Nachtwächter. Das mechanische Bewusstsein würde hieraus schließen, dass die Lebenserwartung von Nachtwächtern wegen des geringeren Energieaustauschs mit der Umgebung länger ist als die von Erotomanen. Das ist schon deshalb Unsinn, weil beide jederzeit die Rollen tauschen können. Jede Biographie hat ihren charakteristischen Energieverlauf; die Bilanz aber liegt bei allen Menschen in der gleichen Größenordnung (wie gesagt: von katastrophalen Verläufen sehen wir ab). Um es noch einmal ganz klar herauszustreichen: die mechanische Ticktack- Uhr ist nur Mittel, Unvergleichbares zu vergleichen. Sie ist ein Instrument unserer technischen Zivilisation und ausschließlich für deren Zwecke wird sie immer weiter vervollkommnet in ihrer Genauigkeit, ohne je die mechanische Abfolge des „eins nach dem anderen“ zu verlassen.
Wir landen hier beim Rätsel des „Symmetriebruches“ (Zeit läuft nur in eine Richtung, eine Umkehr ist nicht möglich), über den Physiker und Philosophen anhaltend grübeln. Und ich will mich diesen Grübeleien nicht anschließen, sondern noch einmal – nehmen Sie’s mir bitte nicht übel – auf der Forderung bestehen, Zeit nicht als absolute und „wertneutrale“ Größe zu sehen, sondern vom Standpunkt des dynamischen Systems aus als an Wechselwirkungen gebundene. Schauen wir also auf die Biographie, als hätten alle Interaktionen Jahresringe hinterlassen. So gesehen wird klar, dass jede spätere Interaktion auf dem Holz des Erlebten, Verarbeiteten und nur noch eingeschränkt Verfügbaren aufbaut. Wir können nicht unser Gedächtnis wie eine Festplatte oder ein Magnetband „löschen“ und neu beschreiben und unseren Körper – also unsere Wahrnehmung – immer aufs Neue „neutralisieren“. Unsere innere Matrix gestaltet sich, genau wie ein Baum, kumulativ. Deshalb haben Kinder ein ganz anderes Zeitempfinden als Erwachsene und uns scheint die Zeit schneller zu verrinnen je älter wir werden. Jede Bewegung erfasst den ganzen Baum und nicht nur die im letzten Jahr neu gewachsenen Äste, jede Wahrnehmung mobilisiert den gesamten Erfahrungsschatz und damit alle Antizipationsmöglichkeiten, nicht nur die der letzten Sekunden oder 24 Stunden. In komplexen und bis heute nicht erkannten Prozessen werden „Langzeit-“ und „Kurzzeiterinnerungen“ mit einer Fülle von Strategien abgeglichen. Die Routinen und Rituale sind dabei gewissermaßen das feste Holz, das den Energieaufwand in Grenzen hält. Sie verleihen uns Gestalt oder den „Charakter“ in den Interaktionen und Selbstinteraktionen. Vertrauen wir also unserem Zeitempfinden und lösen wir uns von der technisch- zivilisatorischen Fiktion einer abstrakt und gleichmäßig ablaufenden Zeit. Sie gaukelt uns vor, in einen amorphen und unbestimmten Raum hineinrennen, -planen, -bauen und –regieren zu können, in der die Sonne morgens auf- und abends untergeht. Unsere Zukunft aber hat eine Struktur, so wie die Baumzeit ihre Ringe. Sie wird bestimmt durch die Anfangsbedingungen und das Wechselspiel aus Systemstrategien und Umgebungseinflüssen.
Das Beharren auf mechanisch-kausalen Strategien läuft auf den kindlichen Versuch hinaus, nach erfolgreicher Bändigung eines Schnürsenkels eine Schleife in eine Giftschlange zu machen.
Sie halten das für eine blödsinnige Übertreibung? Dann fragen Sie doch ruhig einmal etwas genauer nach, zu welchem Ergebnis es führen soll, die Lebensdauer des Menschen um eine Größenordnung – nicht um ein paar Monate oder Jahre – zu verlängern. Geben Sie Ihrer Phantasie Zucker und gehen Sie durch eine Stadt New York, in der eine Milliarde Menschen im Alter zwischen fünf und fünfhundert leben. Bevölkern Sie Ihre Wohnung mit der zehnfachen Mannschaft. Denken Sie über den Preis gar nicht nach. Stellen Sie sich nur vor, dass alle diese reizenden, gutaussehenden, gesunden und wohlgenährten Menschen ihre Konflikte genauso austragen, wie es heute üblich ist. Denn über geänderte Verhaltensweisen schweigen sich alle die grandiosen Utopien der technischen Zivilisation aus. Sie wissen nicht warum, sie ahnen es nur.

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Donnerstag, 23. Februar 2017

Kapitel 6 (5)

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AtelierDer Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, die Absichten des Kindes nicht nur brachial („dominant“) zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Ziel zu lenken. Dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je zu dauerhaft funktionierenden Pat(end)lösungen zu kommen, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?
Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Um es auf ein anderes beliebtes Paradox zu bringen: „Beherrsche mich!!!“ sagt der Masochist zur Domina.
Wir können das Paradox auflösen. Dazu müssen wir nur eines tun: wir müssen akzeptieren, dass es Erde, Sonne und Menschen nur gemeinsam und als Teil des Universums gibt und dass die Zeit nicht nach unseren Uhren läuft. Was vergangen ist, ist nicht „objektiv reale Vergangenheit“ und die Zukunft ist alles andere als unbestimmt.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie blicken vom Moment ihres Todes aus zurück. Sehen Sie die Zeit nicht unabhängig mit dem Ticktack der Uhren ablaufen, sondern als verfügbare Zeit, deren Maß ausschließlich Ihre Interaktionen mit der Umgebung sind. Es ist schwer, sich vom Diktat der mechanischen Zerhacker freizumachen, nicht wahr? Dabei ist dieses Instrument erst seit etwa 200 Jahren jedermann an jedem Ort verfügbar; noch Ende des 18. Jahrhunderts machte sich der längst vergessene preußische Schriftsteller Theodor Gottlieb von Hippel in einem Theaterstück über den „Mann nach der Uhr“ lustig. Heute sind wir alle „Menschen nach der Uhr“, abhängig bis zur besinnungslosen Hatz nach Terminen. „Zeiteinteilung“ meint fast immer ein mechanisches Raster, das zu den Abläufen des Gestells kompatibel sein muss. Aber die verfügbare Zeit hat ein anderes Maß. Die Dauer eines Traumes, einer Geburt, eines Liebesaktes, eines schweren Konfliktes sind nicht mit der Stoppuhr zu messen. Denn wann genau wollten wir sie ein-, wann ausschalten? Wann beginnt der Traum vom Fliegen, wann endet er? Wenn Sie zurückblickend die Chance hätten, durch Streichen eines Ereignisses Zeit „zurückzugewinnen“ – wie wollten Sie das messen und berechnen? Dem mechanischen Verständnis fällt das scheinbar leicht:
Die betrunkene Silvesternacht von 1969 ab Schlag zwölf bis vier Uhr früh streiche ich. Ich wende mich nicht der aufreizend hübschen Babsy zu, sondern stoße mit meinen Kumpels an und gehe irgendwann sturzbetrunken aber solo ins Bett. Damit mache ich den Neujahrstag zum Ausnüchtern und die folgenden drei Monate für das Studium verfügbar, promoviere erfolgreich und sterbe in einem schönen Haus im Grünen, statt in einer Mansarde in Berlin-Schöneberg“.
Wieviel Zeit gewonnen, wieviel Zeit verloren? Wenn der Tod im Reihenhaus durch Herzinfarkt und zwanzig Jahre vor dem in der Mansarde eintritt? Wenn aber andererseits dem Doktor die Zeit erfüllt war mit Glück im Beruf und in der Familie und ihm „im Fluge“ verging, während sich der Glücksritter der Jugendjahre als alter Single dahingrämte?
Zeit ist keineswegs gleich Zeit, wie uns die Zerhacker glauben machen wollen. Vor allem aber: wir können uns „zurückblickend“ der „Vergangenheit“ nicht nähern, wir entfernen uns definitiv von ihr immer weiter. Indem wir unsere Gedanken wandern lassen, verbrauchen wir neue Zeit – die wir im Moment des Todes gar nicht mehr hätten. Sie werden mir nachsehen, dass ich Sie erst jetzt über dieses Paradox stolpern lasse – falls Sie mir nicht längst auf die Schliche gekommen sind, weil Sie das erste Kapitel oder „Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird“ aufmerksam gelesen haben. Dann wundern Sie sich auch nicht, dass „Erinnern“ nicht rückwärts, sondern vorwärts läuft – von dem Zeitpunkt an, auf den Sie zurückblicken, brauchen Sie Zeit, alles Folgende zu modellieren.
Zeit gibt es nur in Verbindung mit Interaktion. Mit Vergangenem können wir nicht interagieren, wohl aber mit „trägen Resten“ der Vergangenheit. Wir sind umgeben von Systemen, die träger interagieren als wir; sie nennen wir „dauerhaft“ und suchen an ihnen die Merkmale „vergangener“ Interaktionen. Was wir „Geschichte“ nennen ist eine spezielle Form zu konstruieren ­­– also wiederum Interaktion mit Daten, Gegenständen, Aussagen mit dem Ergebnis, Modelle zu haben und zu erzählen. Sie sollen möglichst plausibel sein und uns Muster erkennen lassen. Mustererkennung aber ist eine elementare Funktion unseres Gehirns, die im Wesentlichen unbewusst abläuft. Auch beim Simulieren, beim Machen und Erzählen von Geschichte spielen Wünsche und Ängste – und damit Strategien des Vermeidens und Erlangens – mit, die der Kontrolle unseres Bewusstseins entgehen.
Wir geraten an den vertrackten Umstand, dass „Geschichte“ häufig eine Simulation vermeintlich historischen Geschehens in Gang setzt, deren Muster von vornherein den erwünschten Ergebnissen entsprechen. Die „Lehren der Geschichte“ bestätigen unsere vorgefassten Meinungen.
Indessen hat jedes dynamische System eine gemäße Zeit für seine inneren und äußeren Verhältnisse; unser mechanisches Raster schafft bestenfalls eine Relation zwischen unseren Nutzanwendungen und den gemessenen Systemen. Noch immer werden Äpfel eben zu ihrer Zeit reif und nicht wenn es der Konservenfabrik passt. Und die Zeit eines Menschen hat eine Relation zur kosmischen Dimensionen und zu den Dimensionen der Elementarteilchen, die wir uns kaum vorstellen geschweige beherrschen können. Dennoch träumen wir angesichts sterbender Sonnen von der „Unsterblichkeit“ und ziehen an allen Hebeln der Dominanz, sie zu erreichen. Wir akzeptieren gerade eben, dass die Vergangenheit eine Struktur hat, die wir nicht ändern können; dass auch die Zukunft unbeherrschbar strukturiert ist, wollen wir nicht hinnehmen. Planung soll das Dominanzprinzip perpetuieren.
Aber Zukunft ist kein leerer Zeit-Raum, in den sich hineinhantieren lässt. Die Plätze sind besetzt: von Erdbeben, Klimaveränderungen, kosmischen Katastrophen. Vor allem aber von nie gleichzeitig beherrschbaren Zielen und ihrer Antizipation, von den Kraftfeldern mit den wesentlichen Mustern der menschlichen Existenz, von den gleichzeitig wirkenden, die ganze Geschichte der Menschheit wie des einzelnen bewegenden Strategien. Dabei zeigt sich: Gefährlicher für die Menschheit als Killerviren, Klimakatastrophen oder Energiemangel sind unangepasste Strategien. Und natürlich die zugehörigen Rituale und Verhaltensmuster. Wir sind nicht besser als die Igel, nur anders. Wir rollen uns nicht vor den Vierzigtonnern zusammen – nicht in jedem Fall – wir fahren sie. Wir können uns allerdings auch fragen, ob wir wirklich die Joghurtbecher von Polen nach Spanien karren müssen.
Das Beispiel der „BSE- Seuche“ reiht sich würdig in die schier endlose Folge besinnungslos bis zur Katastrophe durchgehaltener Verhaltensweisen: „möglichst viel möglichst billig“ – das war das Ziel der Fleischverbraucher, der Viehzüchter, der Futterhersteller. Tierkadaver, Abwässer samt Fäkalien: egal womit Tiere gefüttert wurden, Hauptsache der Gewinn war möglichst groß. Alle drehten an der Schraube, die Profit aus geschundenen Tieren herausquetschen sollte. Dann tauchten auch im „Musterland“ infizierte Tiere auf und alsbald begann die Hatz auf Sündenböcke. Am Ende war es der Staat, der „Verbraucher nicht genug geschützt“ haben soll. Vor wem, wenn nicht vor sich selbst und ihrer Geiz-ist-geil-Strategie? Vor wem, wenn nicht vor der eigenen Habgier? Nein, habgierig, neidisch, verantwortungslos sind ja immer nur die anderen.
Mit derartigen Beispielen lassen sich Bibliotheken füllen. Und es ließe sich vor allem eines verdeutlichen:
Mit äußeren, geschriebenen Regeln, Gesetzen und Verordnungen, mit Kontrollen und Strafen ist den tödlichen Strategien nicht beizukommen. Jede Regel, jedes Gesetz, jede Verordnung gebiert, sobald nur kundgetan, eine Vielzahl von Schlupflöchern, Methoden, sie zu umgehen oder zu unterlaufen, Ausweichmanöver und nötigenfalls kriminelle Abwehr. Wer imstande ist, tödliche Strategien zu erkennen, täte besser daran, sein Verhalten zu verändern: Durch neue oder geänderte Routinen und Rituale. Es genügt nicht, zu wissen. Nur wo handelnde Subjekte eigenverantwortlich ausprobieren können, und das heißt, auch den unbewusst ablaufenden Interaktionen Platz und Entfaltung zubilligen, entsteht ein schöpferisches Wechselspiel aus Versuch und Irrtum, Lernen und Gestalten. Wie bei Kindern, wenn sie Glück haben.
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Donnerstag, 26. Januar 2017

Kapitel 6 (4)

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Ludwig XIV. - "Sonnenkönig" von Frankreich
Vor jedem Handeln liegt eine Entscheidung. In den allermeisten Fällen sind wir uns dieser Entscheidungen nicht bewusst. Wenn wir zurückschauen, ergibt sich fast ausnahmslos, dass einer der Handelnden die Tendenz hatte zu dominieren. Es gab immer einen Sieger, einen „Hammer“ und einen „Amboss“. Unsere Geschichtsschreibung und insbesondere die Massenkultur suggerieren, dass ein Sieg, dass das Beherrschen des Gegners wünschenswert ist: „The Winner Takes it All“. Egal was die Siege kosten – sie sind zunächst und vor allem Siege. Diesem Prinzip ist der Mensch seinem Mitmenschen und seiner natürlichen Umwelt gegenüber einige Jahrtausende hindurch gefolgt, und er beherrscht sie mit seinem bewundernswert entwickelten Instrumentarium heute in Bereichen, von denen nur Visionäre vor hundert Jahren träumten. Überschallflüge, Raumgleiter, Tiefseetaucher, Rasterkraftmikroskope für Millionstel Millimeter kleine Räume, Laserimpulse von gewaltiger Energiedichte, die so kurz sind, dass sich 10 –15 Sekunden kurze Prozesse im Zellinneren fotografieren lassen. In den Medien jagen sich die Meldungen von immer mächtigeren Wirtschaftsunternehmen und Supercomputern, gentechnischen Wunderwaffen gegen Krankheiten; bald sollen Roboter, so klein wie Bakterien, unsere Körper durchwandern, diagnostizieren und reparieren.
Noch mehr fesseln das Publikum und die für Werbeeinnahmen zuständigen Medienmanager allerdings Nachrichten von Katastrophen: Wirbelstürme, Killerviren, abstürzende Jets, Massenmorde, Erdbeben. „Wird es schlimmer?“ fragen die Journalisten mit Mienen voller Besorgnis, „Und wenn ja: WARUM? UND WER IST SCHULD?“
Sie sollten sich damit nicht weiter quälen. Wir sind einfach dabei, uns zu Tode zu siegen. Das ist ganz normal, denn jede Strategie ist eine Strategie zum Tod. Solange wir dem Dominanzprinzip huldigen, die Welt als Maschine betrachten, deren Rädchen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung ineinandergreifen und nach dem Warum fragen, wenn uns ein Kampfhund in die Nase beißt, sind die Tage menschlicher Existenz ebenso gezählt, wie die Minuten eines Igels, der sich vor einem Vierzigtonner zusammenrollt.
Bevor in einer Interaktion eine Entscheidung fällt – also andauernd im „Rhythmus von Millisekunden“ – ist in einem komplexen Prozess die Auswahl einer bestimmten Strategie abgelaufen. Jede Lebensform entscheidet sich für diejenige, welche das Wünschenswerte antizipiert. Um es noch einmal ganz deutlich zu unterstreichen: Entscheidungen und Handeln sind von Zielen bestimmt, nicht von Ursachen, die „innere Matrix“ liefert dafür die Strategien. 99 % der Entscheidungen erfolgen unbewusst. Und die gewählten Strategien laufen ganz und gar nicht immer auf Dominanz hinaus, sondern – Sie können es vielleicht schon nicht mehr hören – auf das Erhalten dynamischer Gleichgewichte. Dabei konkurrieren Strategien mit äußerst unterschiedlichen Zeithorizonten, die sich im Laufe des Lebens obendrein sehr verändern. Bewusst wird von diesem permanenten „Streit der Gefühle“ das wenigste.
Aber unsere Wahrnehmung ist retrospektiv. Wir schauen auf das Ergebnis und interpretieren es auf Ursache und Wirkung hin. Wir konstruieren Wirklichkeit über Blicke in den Rückspiegel, während das Leben unablässig weitergeht – und wir von der Realität vor uns, von der Zukunft, nichts wissen können. Wir können nur aus statistischen Daten eine mögliche Zukunft modellieren. Das funktioniert erfahrungsgemäß ganz gut, aber es bleibt eben ein Modell, das von Daten aus dem Rückspiegel lebt. Realität: Die Nase blutet, der Rottweiler ist weg. Konstrukt, um sicheres Verhalten gegen künftig auftauchende Beißer herauszufinden: „Was habe ich falsch gemacht? Warum hat er gerade mich gebissen?“ Außer der Frage war nichts falsch. Es war Glück.
Der Rottweiler antizipierte eine leichte Beute und hätte sicher weiter gespielt. Er hätte Sie gern zum apportierbaren Fleischklumpen gemacht, aber ein Pfiff seines Herrn, eines strengen Dominanzanhängers, hielt ihn ab. Hasso wollte, statt seinem Instinkt zu folgen, lieber schwerste Prügel vermeiden: Ziel und Strategie wechselten blitzschnell. So weit die Realität. Ebenso naheliegende wie fragwürdige Schlüsse:
  • Alle Rottweiler sind bissig – meide sie!
  • Leinenzwang für Hunde muss überall gelten!
  • Das Halten bissiger Hunde muss verboten werden!
  • Hundehalter brauchen einen Hunde-Führerschein!
  • Hunde dürfen nur in umzäunten, mit Warnhinweis ausgewiesenen Gebieten frei laufen!
Jeder dieser Schlüsse zieht Verhaltensszenarien nach sich. Besteht auch nur eines die Prüfung auf Realitätstauglichkeit? Schon Versuche, in Verkehrsmitteln oder an öffentlichen Plätzen, wo sich Menschen drängen, einen Zwang zu Leine oder Beißkorb durchsetzen zu wollen, sind hoffnungslos gescheitert. Tucholskys Glosse über Hunde und Hundehalter ist aktuell wie je.
Welche Vielzahl von Strategien wir einsetzen, habe ich in dem (nicht im Weblog publizierten) Kapitel über die „wortlose Weltsprache”, den körperlichen, nonverbalen Teil der Kommunikation, angedeutet – auch dass unsere Wahl- und Entscheidungsfreiheit ziemlich beschränkt ist. Aber dieses zusätzliche Instrument – Sprache und sprachliches Bewusstsein –, das uns vom Igel unterscheidet, können wir zu Anderem nutzen, als nur um zu dominieren. Wir können uns bewusst machen, dass Dominanz nur den engsten Zeithorizont erfasst und als singuläres Verhältnis in dynamischen Systemen auf Stillstand und Chaos – also Tod hinausläuft.
Anschaulich gesprochen: wenn wir unseren Trieben, Wünschen und Lüsten samt ihren mechanischen Rechtfertigungen („wenn ich’s nicht tue, tut’s ein anderer“, „schließlich machen es alle so“) folgen und despotisch durchsetzen „was das Herz begehrt“, zerstören wir uns selbst. Anarchie ist insofern nur die Kehrseite des Despotismus, dem sie zu trotzen behauptet. Sich jederzeit möglichst nach Lust und Laune verhalten zu können, erscheint vielen wünschenswert und entspricht kindlichen Vorstellungen von „Freiheit“. „Keine Macht für niemand“ oder „Gebt den Kindern das Kommando“, so wird gesungen und skandiert. Es sind Despotenträume.

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Mittwoch, 25. Januar 2017

Kapitel 6 (3)

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So wenig es ein Leben ohne Interaktion geben kann, so wenig kommt Interaktion ohne Rituale und Routinen aus. (Routinen definiere ich der Unterscheidung halber als zweckbestimmte Handlungen, die im Gegensatz zu den Ritualen keine sozialen Rollen definieren). Die Komplexität unserer Bewegungen und Handlungen ließe sich ohne sie nicht bewältigen. Das Anschnallen im Auto ist eine solche Routine, das Frisieren vor dem Spiegel nur, wenn es nicht der Selbstinteraktion dient – also praktisch nie. Es ist normalerweise ein Ritual der Selbstdefinition.
Heben wir nun einmal die Augen auf zu den Mächtigen dieser Erde. Sie halten es sicher auch nicht für einen Zufall, dass Macht mit Begriffen wie „hochgestellt“, „erhaben“ oder einfach „groß“ verbunden ist. Klar: die früheste, tiefste und nachdrücklichste Erfahrung mit Unterordnung und Macht ist die rein körperliche Unterlegenheit des Kindes.
Kohl bei der Öffnung des Brandenburger Tors am 22.12.1989

Die Gegner Helmut Kohls hatten es insofern um einiges schwerer als die Oskar Lafontaines, zeitweise um fast anderthalb Zentner. Während Kohl mit seiner auf 194 Zentimeter verteilten Masse jede Menge Luft von der politischen Bühne schob, schien der Zwerg aus dem Saarland ständig auf den Zehenspitzen stehen und das Kinn nach oben recken zu müssen, um auf andere herabsehen zu können. Die katastrophalen Wirkungen auf seine Sympathiewerte beim Publikum habe ich oben schon erörtert. Im Zusammenhang mit Kohl habe ich nicht einmal von wirklich bösen Giftspritzen unter den weiblichen TV- Konsumenten so etwas wie „fieser alter Stinker“ gehört. Witze ja, Abfälliges über seine Intelligenz und seine Bildung die Menge, aber keine wirklich kränkende Bezeichnung. Noch der Wirbel rund um die Spendenaffäre und den nachfolgenden Untersuchungsausschuss zeigt, welche Wellen ein Koloss Kohlschen Formats schlagen kann, und wie er damit seine politischen Gegner ins Strampeln bringt.
Die körperliche Vorgabe begünstigt eine Rollenverteilung nach dem Schema „Vater und Kind“. Sie wäre aber wirkungslos, wenn nicht entsprechende Rituale zwischen dem „Riesen“ und seiner Umgebung dieses Schema fortwährend reproduzieren würden. „Die anderen spielen den König“, das gilt für die kleine Prinzessin und ihre Spielkameraden wie in der großen Politik: wenn nicht Hofschranzen und politische Gehilfen die Korona des Patriarchen erzeugen, wenn es seine Feinde nicht sehr viel Mut kostet, sich ihm und seinem Klüngel entgegenzustellen, fehlt ihm das Wichtigste zu seiner Rolle. Und damit sind wir an einem wichtigen Punkt gelandet: beim Dominanzprinzip.
Leiden oder triumphieren, Amboss oder Hammer sein“ – das ist die klassische Entscheidung, bisweilen auf die platte, mechanische Frage nach der Macht, die Frage „Wer – wen“ verkürzt. Damit ist der systematische Fehler unserer Wahrnehmung, die Reduktion komplexer Prozesse auf simple Kausalitäten, total und brutal zum politischen Prinzip erhoben. Leider haben die katastrophalen Folgen solcher Machtpolitik wenig Einsicht bewirkt. Dem systematischen Fehler folgt der Auswertungsfehler1. Aber es ist mit dem engen Blick auf ewige Abfolgen von Ursache und Wirkung eben noch viel schwieriger, als mit dem auf Sonnenauf- und untergang: Wir sehen ja die Wechselwirkungen von Umgebung, Auge und Gehirn nicht, wir sehen, was uns unser Gehirn sehen lässt. Und an unserem Verhalten erscheint uns nichts so selbstverständlich wie Dominanz.
1 Barbara Tuchman „Die Torheit der Regierenden“

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Montag, 23. Januar 2017

Kapitel 6 (2)

Zurück zu Abschnitt 1 – er schloss: Normalerweise beherrschen Sie Ihre Lebensumgebung routiniert, mit unzähligen unbewussten Handlungen, einige davon haben den Charakter von Ritualen. Das sind diejenigen, die soziale Rollen definieren.
Es muss nicht ein fehlender Kuss sein, an dem Ihnen das bewusst wird: Immer wenn ein solches Ritual merklich verändert wird oder wegfällt, bedeutet das eine erhebliche Veränderung der Interaktionsmuster und stört das Gleichgewicht. Wir haben ein tief wurzelndes Bedürfnis, unser Umfeld mit Ritualen und routinierten Handlungen zu beherrschen und zugleich sind wir von diesem Umfeld abhängig – es handelt sich eben um Wechselbeziehungen.
Für Menschen, deren Interaktionsmöglichkeiten eingeschränkt sind, können Handlungsroutinen besonders wichtig werden: für Autisten oder alte Menschen zum Beispiel.Ich erinnere mich noch sehr gut, wie meine Großmutter im hohen Alter immer mehr die Fähigkeit verlor, spontan auf Veränderungen zu reagieren. Sie nahm nicht auf, was um sie herum vorging. Aber bestimmte Dinge liefen routiniert ab: das Wegräumen des Bettzeugs und das Kaffeekochen ebenso wie das Saubermachen und Einkaufen. Wie sehr sich Routinen und Rituale vom Wahrnehmungsvermögen abkoppelten, merkten wir daran, dass die eingekauften Waren immer dieselben waren, aber gar nicht gebraucht wurden, zum Beispiel -zig Butterpackungen. Wenn meine Großmutter ihr Appartement verließ, schloss sie ihre Tür ab und steckte den Schlüssel in die Einkaufstasche. Am Ende ihres Lebens – sie war schon neunzig Jahre alt – funktionierte auch dabei die Rückkopplung nicht mehr. Mehrmals wandte sie sich auf dem Flur des Appartementhauses um und fragte: „Habe ich denn auch abgeschlossen?“ und dann suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, fand ihn und hatte ihn augenblicklich wieder vergessen, genau wie die vielen Butterstücke in ihrem Kühlschrank.
Meine Besuche bei ihr waren natürlich rituell: im Winter stellte ich meine Langlaufski im Flur ab, sie deckte den Tisch mit Kaffee und Kuchen, wenn ich durchgefroren von den Bergen herunterkam; im Frühling sprachen wir von den blühenden Gärten und dann folgten unabhängig von der Jahreszeit Beschwerden darüber, dass meine Mutter sie zu selten besuchte.
Solche Rituale in der Familie können Sie bestimmt auch beschreiben. Vielleicht können Sie sogar herausfinden, welche Rollenzuweisungen sich mit den Ritualen verbinden.
Wie sehr wir von funktionierenden Handlungsroutinen und -ritualen abhängen merken Sie, wenn ihnen morgens der Filter platzt und Sie den Satz im Kaffee haben. Manchmal reicht weniger, um heftige Reaktionen zu provozieren. Noch stärker wirken jene Rituale, die unsere sozialen Interaktionsmuster ausmachen. Wenn jemand seinen Lebenspartner verlässt, ist er vielleicht von der neuen Liebe aufgewühlt oder den ungewohnten neuen Möglichkeiten gefangen genommen, für die er ein fade gewordenes Zusammensein leicht aufgibt. Der Alleingebliebene stürzt – selbst wenn die Trennung für ihn nicht überraschend kommt – in ein Chaos. Es ist übrigens egal, ob die verlorene Liebe oder der Tod zur Trennung führt: Die unterbrochenen Lebensmuster bringen ihn aus der Balance. Handlungsroutinen laufen in die Leere. Die Antizipation der durch Rituale gesteuerten Wechselbeziehungen funktioniert weiter, aber das Ziel der Erwartung ist nicht mehr da. Und das Ergebnis ist Phantomschmerz, der unser Dasein verstört, egal ob es sich um den Verlust eines Körperteils, eines geliebten Menschen, eine Vertreibung aus der Heimat oder auch nur den Tod eines Haustieres handelt, das lange Zeit mit uns zusammenlebte.
Der Rauhaardackel meiner Mutter lag gewöhnlich im Wohnzimmer auf dem Sofa und sprang, wenn jemand die Wohnung betrat, herunter. Dann flitzte er in den Flur, um den Ankömmling zu begrüßen. Er bellte nur, wenn es geklingelt hatte.
Als der Bursche in die ewigen Jagdgründe einging, war diese stereotype Bewegung samt dem Geräusch der Pfoten immer noch da, als hätte der Dackel eine Spur in der Raumatmosphäre hinterlassen. Natürlich war der Vorgang nur in unsere Wahrnehmung eingewachsen. Jedes Mal, wenn wir im Wohnzimmer saßen und sich ein Schlüssel im Türschloss drehte, antizipierten wir den alten Gefährten. Mit dem Geist von Hamlets Vater hat es vermutlich die gleiche Bewandtnis.

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Sonntag, 22. Januar 2017

Erwünschte Entfernung

Mit fortschreitendem Alter stellt sich immer dringlicher die Frage, wofür einer seine Energien einsetzen will, von welchen Arbeitsfeldern er sich besser zurückzieht, weil Aufwand - also knapper, kostbarer werdende Lebenszeit - und Nutzen - also der Gewinn an Zufriedenheit, zu dem wohl auch das Einkommen beiträgt - nicht mehr in vernünftigem Verhältnis stehen.

Im Journalismus war mein erwartbarer Gewinn an Zufriedenheit schließlich ebenso dramatisch geschrumpft wie meine Möglichkeiten, unerfreulichen Entwicklungen auf diesem Arbeitsfeld zu wehren. Die Situation war - insbesondere was das Fernsehen anlangt - jener zu vergleichen, in der ich mich seit Anfang der 80er Jahre in der DäDäÄrr befand: Mit unvertretbarem Kraftaufwand versuchte ich damals, quadratzentimeterweise auf Theaterbühnen Handlungsfreiheiten zu behaupten. Das erwies sich als sinnlos, weil immer genügend Bereitwillige verfügbar waren, mich zu verdrängen, meine Positionen zu besetzen. Der Staat konnte meine jederzeitige Ersetzbarkeit zur Erpressung nutzen, er versuchte, mich in den Mainstream des Gehorsams zu zwingen. Ich gab nicht nach, ich stieg aus. Die Nachfolger machten Karriere - einige besonders Stromlinienförmige auch nach dem Zusammenbruch der DäDäÄrr im vereinigten Deutschland; nicht nur sie verdarben mir die Lust, jemals wieder an Stadttheatern zu inszenieren. Mit der Hochachtung für die oppositionellen Autoren, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und anderen mutigen Mitarbeiter der Theater in totalitären Staaten wuchs meine Enfernung zu den bequemen Salonrevoluzzern des Westens. Ähnliches hat Liao Yiwu in China erlebt. Das Radiofeature über ihn und seinen Roman "Für ein Lied und hundert Lieder" zeigt, wie nahe sich der aus China und der aus der DäDäÄrr "entfernte" sind.
Ersetzbarkeit ist das Mittel der Erpressung in allen Sozialsystemen - das war keine gänzlich neue Einsicht meiner Tätigkeit als Journalist in den vergangenen zwanzig Jahren. Diese Einsicht, ihre sozialen Hintergründe, ihre Konsequenzen flossen in mein erstes Buch "Der menschliche Kosmos" ein: 2006 begann mit seinem Erscheinen mein Ausstieg aus dem Fernsehen. Es hatte wirkliche Höhepunkte, Erfolge gegeben, die dem Funktionieren demokratischer Strukturen und dem Auftrag öffentlich-rechtlicher Anstalten Ehre machten.
Die Entwicklung aber macht aus Journalisten zunehmend Erfüllungsgehilfen. Quotenvermutungen bestimmen fast ausschließlich, welche Themen ins Programm kommen; statt journalistisch distanzierter Haltung beim Berichten und womöglich quer stehender eigener Meinung beim Kommentieren richten sich Stellungnahmen an minder qualifizierten Prominenten oder politisch korrekten Experten aus. Es ist egal, ob die vermeintlichen Gewissheiten von heute sich morgen als Unsinn erweisen: Hauptsache schnellstens auf der "richtigen" Seite dabeisein, Hauptsache Quote.
Für mich wurde es höchste Zeit, mich aus diesem Geschäft zu verabschieden, nur noch das zu tun, was mit meiner Haltung vereinbar ist: So wenig wie der staatlich verordneten Monokultur im Osten werde ich der auf Konformismus zielenden Monokultur des Mainstreams zuarbeiten. Es gibt Wichtigeres - sogar Wichtigeres als Geld.

Kapitel 6 (1)

 

Die Macht der Rituale und die Rituale der Macht 
 
buendnisa_200Aggression und Dominanz. Die Despotie des Spontanen. Dominanz und die Herrschaft der Dominierten, individuelle und soziale Regelsysteme. Rituale des Gestells und unbeherrschbare Informationsnetze: die Macht von Klatsch und Tratsch.
 
Dieses Kapitel gehört Ihnen. Viel mehr als die vorangegangenen lebt es davon, wie Sie eigene Erfahrungen aufarbeiten und bereit sind, selbst etwas Neues auszuprobieren.
Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo Sie mit sich alleine sind und wirklich ungestört, mindestens für eine Viertelstunde. Legen Sie sich auf den Boden und entspannen Sie sich, wie Sie es in Kapitel 3 schon getan haben, um Ihren Körper zu spüren. Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich des Tagesablaufs - so als liefe ein Film ab, der Sie alles der Reihe nach noch einmal erleben lässt, was vorgefallen ist. Nehmen Sie sich nicht zu viel vor: zwischen Nachtlager und Morgentoilette passiert schon eine ganze Menge. Setzen Sie sich lieber einen Endpunkt – etwa die morgendliche Begrüßung in Ihrer Arbeitsumgebung oder die Verabschiedung der Kinder auf den Schulweg.
Wenn Sie eine erste grobe Ablaufskizze haben, dann gehen Sie in die Details. Was war ihr erster Gedanke beim Wachwerden? Erinnern Sie sich wirklich noch, mit welchem Bein Sie aufgestanden sind? Was war Ihr erster Kontakt zu einem anderen Menschen? Was genau haben Sie beide getan? Und in welcher Reihenfolge?
Sie werden feststellen, dass es einige Mühe macht, wirklich jeden Augenblick in der Erinnerung zu verfolgen und dass viele Handlungen unbewusst und routiniert ablaufen. Besondere Aufmerksamkeit und eine klarere Erinnerung verbinden sich mit jenen, die neu sind oder mit Störungen und Abweichungen einhergehen. Eine ganze Reihe von Handlungszielen erreichen Sie ohne lange nachzudenken, meist sind sie mit Ihren Gedanken woanders, während Sie Filtertüten mit Kaffee füllen oder Orangensaft aus dem Kühlschrank nehmen. Auch, wenn Sie Ihrem Lebenspartner einen Kuss geben und sagen: „Das Frühstück ist fertig“.
Der Kuss ist dennoch wichtig, denn das Ritual konsolidiert die häusliche Rollenverteilung. Jede noch so gewohnheitsmäßige Handlung ist wichtig für Ihr Gleichgewicht, das bemerken Sie spätestens, wenn Sie auf Reisen sind. Wenn nicht, sind Sie immer auf Reisen, nur mit Mama gereist oder liegen ständig unbeweglich auf einem Nagelbrett und schauen in den Himmel. Aber dann sind Mama oder das Nagelbrett unentbehrlich für das Gleichgewicht. Sei’s drum: normalerweise beherrschen Sie Ihre Lebensumgebung routiniert, mit unzähligen unbewussten Handlungen, einige davon haben den Charakter von Ritualen. Das sind diejenigen, die soziale Rollen definieren.

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